Die Tafeln
- Von den Tafeln ist im Zweiten Buch Moses die Rede. Am Berge Sinai hat Gott die Gebote und Weisungen für die Kinder Israels auf Tafeln geschrieben und dem Moses übergeben. Dieser Akt gilt als zentrales Thema des Judentums. Mitunter verknüpft mit der Vorstellung einer gleichsam in Stein gemeißelten Gesetzesvorschrift, verbunden mit dem Klischee der erstarrten Gesetzesreligion.
- Auf den zahlreichen Bilddarstellungen mit den Zehn Geboten sind meist Tafeln zu sehen, die wie Felsgestein anmuten.
Moses mit den Tafeln, José de Ribera, 1591-1652
- Dem traditionellen Verständnis nach, so in der mündlichen Thora überliefert, waren die Tafeln jedoch aus Kristall und nicht aus Felsgestein. Sie waren aus durchsichtigem, lichtdurchflutetem Saphir.
- Das ergibt ein anderes Bild.
- Die Tafeln bestanden nicht aus erstarrtem Lava- oder Sedimentgestein, sondern sie waren aus Kristall, aus einer Struktur des Lichts. Sie waren in Wirklichkeit ein dialogisches Fenster. Ein Fenster, durch das künftig der einzelne Mensch in einem persönlichen Dialog mit dem Himmel stehen sollte.
Darum heißt es an dieser Stelle der Offenbarung am Sinai: "Jeder Einzelne antwortete" und weiter: "und sie sahen den Gott Israels; und unter seinen Füßen war ein Boden wie von Saphir, so klar wie der Himmel selbst." (2 Moses 24,1-10)
- Der Boden aus Kristall unter den Füßen Gottes, der hier genannt wird, ist der Kristallhimmel, die "Feste", das Firmament oder das "Gewölbe" das in der Genesis erwähnt wird. Gott macht es, um eine Ausdehnung zu schaffen, die die Wasser scheiden soll in die unteren und die oberen Wasser. (1 Moses 1,6)
- Die oberen Wasser nennt er Himmel. Im Urtext schamaim - die dortigen Wasser.
Aus den unteren Wassern ensteht das trockene Land und das Meer.
- Durch den Kristallhimmel erst wird die Distanz erschaffen, die Ausdehnung, der Raum, aus dem der Mensch seine Eigenständigkeit entwickeln kann, in dem er fortan dem Himmel gegenübersteht.
Martin Buber thematisiert diese Scheidung in seiner Schrift: "Urdistanz und Beziehung".
Das Bild des lichtdurchfluteten Kristalls ist damit in prinzipieller Weise mit der Ich-Entwicklung des Menschen verbunden.
- Der Kristall ist eigentlich das Gegenbild des erstarrten Felsgesteins.
- Die Tafeln sind aus dem Kristall des Himmelsgewölbes, durch das im Urbeginn die oberen Wasser von den unteren Wassern geschieden wurden. Das heißt, dass sie immateriell waren, wie auch die Beschaffenheit des Kristallhimmels immateriell zu verstehen ist.
- Durch sie entsteht die Ausdehnung und das Gegenüber.
- So werden sie im ursprünglichen Sinne begriffen, nämlich als Ansprache Gottes an den Einzelnen. Eine solche hatte es bis dahin nicht gegeben. Diese Scheidung ist die Sprache.
- Martin Buber betrachtet dieses Dialogische Prinzip als das wesentliche Element, das durch die Offenbarung am Sinai in die Welt gekommen ist. Das Verhältnis von Ich und Du.
- Die Weisungen sind nur ein Aspekt, gleichsam eine Herausforderung, in der der Einzelne angesprochen ist und in Ansprache und Antwort vor dem Himmel steht.
Als Gebote stellen sie einen temporären Aspekt dieser Entwicklung dar, quasi ein äußerer Maßstab, der beizeiten abgelegt werden würde, so dass jeder aus dem Empfinden heraus handeln kann. Das wurde auch formuliert, etwa von Jeremias, der diesen anarchischen Grundgedanken hervorhob, nämlich die Emanzipation des Einzelnen und seine Unabhängigkeit von äußerer Maßgabe, indem diese Beziehung zum Himmel einmal verinnerlicht werden würde:
"Dann wird nicht mehr einer seinen Nächsten oder einer seinen Bruder lehren und sagen: Erkenne den Ewigen! Denn sie alle werden mich erkennen von ihrem Kleinsten bis zu ihrem Größten." (Jer. 31,34)
- Beizeiten, so Jeremias, wird niemand mehr dem anderen sagen, was er zu tun und zu lassen habe, weil es jeder aus seinem Herzen heraus weiß.
- Das ist auch im Bild von der Befreiung aus der Ägyptischen Gefangenschaft ausgedrückt. Im Zeichen der Saturn-Pluto-Verbindung bezieht diese sich ja auf die Befreiung des Einzelnen aus dem Zwang des Kollektivs, wo er nur als Funktion der Gemeinschaft begriffen wurde. Die Tafeln aus Saphir mit den Zehn Weisungen wurden nach dieser Befreiung überreicht.
- Die Überreichung der Tafeln erfolgte im Verlauf der Wüstenwanderung, nachdem das Volk Israel aus der ägyptischen Gefangenschaft ausgezogen war. Die ägyptische Sklaverei gilt in der Münchner Rhythmenlehre als Bild der Saturn-Pluto-Verbindung. Diese geht auf die Verbindung von Saturn und Neptun zurück. Es geht um die Lücke des Uranus bzw. Wassermanns, der geboren werden will. Das ist die Identität des Einzelnen, der Mensch. Daher feiern die Juden den Erhalt der Tafeln am Sinai als Schawuoth, das Fest der Individualisierung des Einzelnen in der Ansprache durch die Weisungen Gottes. Das Fest wurde bei den Christen zum Pfingstfest. Pfingsten bedeutet Fünfzig. Denn es war das Fest Schawuoth, fünfzig Tage nach Pessach, zu dem sich die Apostel versammelt hatten, als der Heilige Geist sich in Gestalt einer Flamme auf jeden Einzelnen von ihnen herabsenkte.
- Der Mensch ist von nun an nicht mehr durch das Kollektiv bestimmt, sondern steht als Einzelner vor Gott. Als einer, der Ich sagen kann, steht er im Dialog vor dem ewigen Du, wie Martin Buber es ausdrückt.
- Daher auch die besondere und stets wiederkehrende Betonung der Einzigkeit Gottes. Er ist das Prinzip der Identität, der Einzigkeit, das sich mitteilt und durch das der Mensch auch ein Einzelner in seiner Einzigkeit werden soll.
- Daher übersetzen Buber und Rosenzweig den Heiligen Namen, das Tetragramm - יהוה -, das in den meisten Übertragungen seit Luther als HERR erscheint, mit dem Grundwort der Person: Ich und Du. So lautet das erste der Zehn Gebote: ICH bin dein Gott, der ich dich führte aus dem Land Ägypten, aus dem Haus der Dienstbarkeit. Nicht sei dir andere Gottheit mir ins Angesicht.
Martin Buber /Franz Rosenzweig Die Bücher der Weisung
- Der Mensch soll heraustreten als Einzelner, soll nicht mehr vom Kollektiv - dafür steht Ägypten - und nicht mehr durch Vorgänge - dafür steht Babylon - bestimmt sein. Er soll zur eigenen Bewegung kommen.
- Daher ist von zwei Gefangenschaften die Rede - der ägyptischen und später von der babylonischen Gefangenschaft.
- In der mündlichen Überlieferung heißt es, auch die Mauer, von der beim Durchzug der Kinder Israels durch das Schilfmeer die Rede ist und die die Wasser rechts und links trennte, so, dass sie trockenen Fusses ans andere Ufer gelangen konnten, sei aus jenem Kristall gewesen, der in der Genesis die oberen und unteren Wasser scheidet.
- Im astrologischen Verständnis der Antike und des Mittelalters bildet der Kristallhimmel die Grenze des Tierkeises. Uranos wird das Himmelsgewölbe in der griechischen Kosmologie genannt.
Der Name ist verwandt mit dem des indischen sowie persischen Urgottes Varuna, der "Umhüller", der als Personifikation des Urwassers gilt.
Die Himmelskreise nach Dante mit dem Kristallhimmel, Cielo cristallino,
die 10. Sphäre und Scheidung der oberen und unteren Wasser,
der Kreis der ersten Bewegung, primo mobile. Diagramm von Natalino Sapegno
- Der Saphir wird in der Bibel mehrfach erwähnt. Er bildet nach dem Jaspis die zweite der zwölf Grundsteine der Mauern des Himmlischen Jerusalem. Das entspricht dem Wassermann, dem zweiten Zeichen der oberen Reihenfolge des Tierkreises. So auch seine Zusammensetzung aus Aluminiumoxyd, der Neptun-Uranus-Verbindung bzw. dem Übergang von Fische und Wassermann entsprechend. Seine blaue Farbe ist die des Himmels. Die Farben des Kupfers>>
- In der antiken Entsprechungslehre wird er dem Saturn zugeordnet. Als dessen Hauptzeichen galt damals der Wassermann.
- Noch im Mittelalter wurden alle blauen Edelsteine als Saphire bezeichnet. Sein Name ist etymologisch verbunden mit dem hebräischen Wort für Schrift oder Buch - Sepher sowie mit Ziffer - Sephirah. Das griechische Sphära und damit das deutsche Sphäre gehen darauf zurück.
- Die Etymologie des Wortes Sprache, von ahd. sprahha, gehört auch in diesen Zusammenhang.
- Der Saphir ist der Sphärenkristall. In den zehn Sephiroth des Lebensbaums der Kabbalah werden die zehn Sphären der ersten Ausgießung des göttlichen Lichtes dargestellt. Die zehn Sephiroth >>
- Als Moses nach der Überreichung der Tafeln vom Berg Sinai hinabsteigt, hat das Volk schon begonnen, sich abzuwenden und ein goldenes Kalb anzubeten. Aus Zorn zerbricht Moses die Tafeln.
- Von einem ähnlichen Zerbrechen ist in der mystischen Anschauung von den zehn Sephirot die Rede. Dort wird die Entstehung der heutigen Welt als Bruch der Sephiroth-Gefäße beschrieben. Sieben der zehn Gefäße konnten die Ausgießung des göttlichen Lichtes nicht fassen und zerbrachen darüber.
Aus diesen Scherben der zerbrochenen Formen entstand die Materie. In ihr eingeschlossen sind die göttlichen Funken. Sie harren der Befreiung im Erkennen des Menschen.
- Dies bedeutet, die Gestalt der Gegenwart im Gegenüber zuzulassen.
- So beschreibt es der Mystiker Baal Schem Tow in einem Gedanken über die heiligen Funken:
Die heiligen Funken, die gefallen sind, als Gott Welten baute und zerstörte, soll der Mensch erheben und aufwärts läutern von Gestein zu Gewächs, von Gewächs zu Getier, von Getier zu redendem Wesen, läutern den heiligen Funken, der von der Schalengewalt umschlossen ist. Es ist bekannt, dass jeder Funke, der in einem Gestein oder Gewächs oder einer anderen Kreatur wohnt, eine völlige Gestalt hat mit der Vollzahl der Glieder und Sehnen, und wenn er in dem Gestein oder Gewächs wohnt, ist er im Kerker, kann Hände und Füße nicht strecken und kann nicht sprechen, sondern sein Kopf liegt auf seinen Knien.
Und wer mit der guten Kraft seines Geistes den heiligen Funken von Gestein zu Gewächs, von Getier zu redendem Wesen zu heben vermag, der führt ihn in die Freiheit, und keine Lösung Gefangener ist größer als diese. Wie wer einen Königssohn aus der Gefangenschaft errettet und zu seinem Vater bringt. aus: Baal Schem Tov, Martin Buber
- Meister Eckhart sagt: Dadurch, dass ihr die Dinge anschaut, führt ihr sie zu Gott zurück. Seht, was ihr alle tut.
(...)
***
(C) Herbert Antonius Weiler, Dezember 2023
© H e r b e r t A n t o n i u s W e i l e r