Der Jäger

 

 

Er fuhr einen älteren, offenbar gebraucht erworbenen Mittelklasse-Wagen, eine Honda-Limousine, grau und bordeauxrot, Farben wie einem Spektrum für Büromöbel entnommen. Am Rückspiegel hing ein chinesischer Glücksbringer. Eine kleine, daumengroße Pagode aus rotem Kunststoff mit gelben Seidenfransen, die vor der Frontscheibe baumelte.

Der Wagen vermittelte den Eindruck gesuchter Unauffälligkeit und mit dem Accessoire aus dem China-Restaurant erschien er jeglicher Zunftzugehörigkeit enthoben. 

Zwar ließ der Glücksbringer am Spiegel den Hintergrund häufiger Geschäftsessen durchblicken, widersprach aber zugleich einem saturierten kaufmännischen Umfeld. 

Einen Freelancer würde man ihn heute nennen. Es war Mitte der 1990er Jahre und ein solcher Begriff noch nicht im Schwange.

Sein Beruf sei kaum zu erraten, er sei ein Jäger. Ich jage Menschen, sagte er. 

Er jage ehemalige Geschäftspartner von Unternehmern und Erfindern oder Firmenangehörige, die sich mit dem Betriebskapital oder mit Plänen davongemacht haben. Fälle, deren Verfolgung die Polizei eingestellt hat. Diese Leute spüre ich auf und stelle sie. Um auf diese Weise das Entwendete zurückzuführen. Das ist wie ein Puzzle, das sich fügt, beschrieb er seine Vorgehensweise.

Er würde zunächst in die Gegend fahren, wo der Gesuchte zuletzt gesehen wurde, dort seine Kreise ziehen und nachfragen, Anknüpfungspunkte würden sich ergeben. Sie glauben nicht, wie viel Ihre Nachbarn über Sie wissen, selbst in scheinbar anonymen Wohnsilos. 

In der Schweiz habe er vor einem Hochhauskomplex mal einen Nachbarn angesprochen, ob er sich an Details erinnere, etwa anhand des Autos des Gesuchten. Ja, habe der Nachbar gemeint, da lag einmal eine Broschüre mit Versicherungsunterlagen unter der Heckscheibe. Nun, der Mann wird wohl eine Versicherung abgeschlossen haben, habe er eingeräumt. Nein, habe der Nachbar gesagt, es habe eher so ausgesehen, als sei der Gesuchte selber im Versicherungsgeschäft tätig. Und daraus ergab sich schließlich die entscheidende Spur.

Abends in seinem Büro in Düsseldorf sitzt er dann an seinem Schreibtisch und breitet vor sich aus, was er hat. Er betrachtet dies und nimmt jenes in die Hand. Und dann sei es eben wie ein Puzzle, das sich plötzlich fügt. Mit einem Male ergibt sich eine Gewissheit, wo der Gesuchte zu finden ist. 

Dann fahre ich dort hin, spähe ihn aus und warte, ihn in einer bestimmten Situation stellen zu können. Etwa wenn er mit anderen im Restaurant sitzt. So gelänge die geeignete Überraschung.

Und dann?

Die Angesprochenen, nachdem sie zunächst überrumpelt wurden und sich womöglich empörten, seien in den meisten Fällen froh, die Sache bereinigen zu können. Denn der Betrug sei ihnen letztendlich auch eine Last.

 

Die Art der Ansprache sei ausschlaggebend. Sehr selten, meinte er, gibt es Ärger. Wenn überhaupt, hin und wieder mit Akademikern - häufig Juristen, Naturwissenschaftler oder Ingenieure. Unter diesen käme es schon mal zu Uneinsichtigkeit oder starrsinnigem Verhalten, allerdings bisher nur einmal zu Tätlichkeiten.

Den geringsten Ärger machten hingegen Leute aus dem kriminellen Milieu. Diese wüssten wann die Flucht vorbei sei und nähmen es hin. 

Auch ansonsten, im nichtakademischen Spektrum fiele es nicht schwer, die Gestellten zur Herausgabe des gestohlenen Geldes oder der entwendeten Unterlagen zu bewegen. Schließlich kämen sie auf diese Weise ohne eine strafrechtliche oder zivilrechtliche Ahndung davon. Hingegen mit Akademikern, resümierte er abermals, gestalte es sich schon mal schwierig.

Zu dieser Tätigkeit war er gekommen, weil einst sein eigener Geschäftspartner mit dem gemeinsamen Kapital verschwand. Er hatte ihn gesucht und schließlich ausfindig gemacht. Das Kapital erhielt er so zum großen Teil zurück. Ein Bekannter, dem Ähnliches widerfahren war, fragte daraufhin, ob er gegen Honorar auch sein entwendetes Geld wiederbeschaffen könne. Er willigte ein und es fanden sich nach und nach weitere Interessenten. Da er erfolgreich war, stieg sein Ansehen und seine interne Bekanntheit so weit, dass er bald auch Anfragen von Industriekonzernen, etwa von einem der großen Autohersteller, oder ähnlichen Klienten erhielt.

  

Mit der Astrologie war er soweit bekannt, auch sein Aufgangszeichen zu kennen. Aszendent und Sonnenstand, sagte er, fielen bei ihm merkwürdigerweise in die beiden Tierkreiszeichen, die ihm stets und immer wieder bei jenen begegnen, die er ausfindig zu machen habe, weil sie sich mit Geld oder Firmendokumenten davongemacht hätten. 

Er sei im Zeichen Fische geboren und sein Aszendent sei Löwe. Und es seien immer wieder Fische und Löwe-Geborene, mit deren Auffindung er beauftragt würde. 

Diese strebten halt, so seine Erklärung, am stärksten nach Unabhängigkeit und seien von Moral und gesellschaftlichen Regeln weitgehend unbeeindruckt. 

 

Seinen Aussagen nach befindet sich in seinem Horoskop die Sonne im Zeichen Fische. Und bei Aszendent Löwe im neunten Haus, das dem Schützen entspricht.

Das Haus des anvisierenden Jägers, der in stetiger Bewegung bleibt, um - hier mit dem Urrudiment des Löwen - die Beute zu umkreisen. Und dem sich im Umkreisen aus den ermittelten Teilen mit der Intuition des Fisches ein Bild fügt, aufgrund dessen er sich plötzlich gewiss ist, wo die Beute zu fassen ist. 

Dabei im Sinne des Fisches mit Sonne in Haus Neun, wo es um die Einsicht in die Befindlichkeit des Anderen geht, den Gesuchten ansprechend ohne ihn moralisch zu verurteilen, der Bereinigung einen Raum gebend. Eine Freiheit, die sich dem Angesprochenen öffnet.

 

 

 

 

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(C) Herbert Antonius Weiler 2018