Das hebräische Vaterunser
Nach dem babylonischen Exil hatte sich das Aramäische als Verkehrssprache des Nahen Ostens auch in Israel verbreitet und das angestammte Hebräisch der jüdischen Bevölkerung, das dem Aramäischen verwandt ist, zum Teil in den Hintergrund gedrängt.
Jedoch ist die Vorstellung, die Juden hätten zur Zeit Jesu im täglichen Leben nicht mehr Hebräisch gesprochen, abwegig.
Ohnehin erst gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts aufgekommen, lässt sich in der Rede vom Aramäischen als "Muttersprache Jesu" die seinerzeit opportune Neigung, den hebräisch-jüdischen Hintergrund der Evangelien auszublenden, kaum verhehlen.
Auch im heutigen Sprachgebrauch existieren Regionalsprache, Dialekt und Hochsprache neben einer internationalen Verkehrssprache vielerorts nebeneinander. Die Vorstellung, das Hebräisch der Juden
sei aus dem Alltag verbannt gewesen, erweist sich insofern als lebensfern. Neben dem Judeo-Aramäischen und der Koine - dem Griechischen der Küstenregionen - und dem Lateinischen der
römischen Verwaltung, dürfte das Hebräische ebenso zu den im Innern des Landes gesprochenen Sprachen des Alltags gehört haben.
Ohnehin verkennt der Einwand, das Hebräische sei zur Zeit Jesu nur noch Sprache der Liturgie gewesen, dass auch die religiöse Unterweisung und der religiöse Dialog, wie ihn Jesus und die Jünger führten, traditionell in Hebräisch geführt wurden, worauf Martin Buber verweist. Dies insbesondere im Bereich der angestammten religiösen Zentren wie Jerusalem, Tiberias oder Hebron.
Zwar waren bereits 150 Jahre vor der Zeitenwende vereinzelte Fragmente aramäischer Übersetzungen bei den jüdischen Gemeinden außerhalb Israels entstanden, das Judeo-Aramäische aber etablierte sich als Sprache der jüdischen Gelehrsamkeit erst nach der Niederschlagung des Bar-Kochba-Aufstandes, der letzten Revolution gegen die römische Herrschaft im Jahre 135.
Den Juden war es fortan bei Todesdrohung verboten, Jerusalem zu betreten.
Die vordem in Jerusalem ansässigen rabbinischen Lehrhäuser verlegten ihren Sitz darauf nach Galiläa, eine Region mit vielen nichtjüdischen Gemeinden, in der das Aramäische entsprechend häufiger gesprochen wurde als andernorts. Erst in talmudischer Zeit, in den ersten Jahrhunderten n. Chr., entstanden religiöse Texte wie das jüdische Totengebet, das Kadisch, das bis heute in Aramäisch gehalten wird.
Insofern ist auszuschließen, dass jene bei Matthäus 6,9–13 und Lukas 11,2–4 berichtete Unterweisung, in der Jesus die Jünger das Vaterunser lehrt, auf Aramäisch stattgefunden hat. Vielmehr kann davon ausgegangen werden, dass Jesus das Vaterunser auf Hebräisch gesprochen und gelehrt hat. (...)
Möglicher hebräischer Wortlaut des Vaterunsers
mit Interlinearübersetzung
Zur Aussprache:
Die Silbenbetonung ist durch Unterstrich des betreffenden Vokals gekennzeichnet.
Das ch als Transkription des chet ח oder chaf כ wird stets, auch bei hellen Vokalen, als Hintergaumenfrikativ gesprochen wie im Deutschen bei den Worten Bach, Buch oder Wache.
Die Richtung der hebräischen Schrift geht von rechts nach links. Die Transkription ins Deutsche folgt der hebräischen Schreibrichtung bei der Reihung der Wortblöcke.
Die darin transkribierten Worte geben - jeweils von links nach rechts - die darüber befindlichen hebräischen Buchstaben in deren Lautfolge wieder.
Früheste Zeugnisse für einen hebräischen Urtext der Evangelien finden sich, neben einigen talmudischen Hinweisen auf die Schriften der Minim, der Zweige, wie die Judenchristen genannt wurden, bei dem Kirchenhistoriker Eusebius von Cäserea (260-339). Eusebius zitiert Papias von Hierapolis, der ein Schüler des Apostels Johannes war: "Matthäus hat in hebräischer Sprache die Reden (Jesu) zusammengestellt".
Ebenso Origenes: "Zuerst wurde das Evangelium nach Matthäus, dem früheren Zöllner und späteren Apostel Jesu Christi, für die Gläubigen aus dem Judentum in hebräischer Sprache geschrieben."
Auch etliche Etymologien und Wortspiele sowie darauf basierende übergreifende Verweise in den Schriften der Evangelisten bezeugen einen hebräischen Urtext. So die eigens hervorgehobene Anzahl der Fische beim nächtlichen Fischfang im Text des Johannes, die einen verborgenen, nur über die hebräische Etymologie zugänglichen Bezug zu der Geschichte von Kamel und Nadelöhr bei den anderen Evangelisten enthält.
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Näheres zum nächtlichen Fischfang:
Von den Hunderdreiundfünfzig Fischen >>
Zum Hebräischen als gesprochene Sprache zur Zeit Jesu siehe auch:
Martin Buber, Zwei Glaubensweisen
Guido Baltes, Hebräisches Evangelium und synoptische Überlieferung / Unter-suchungen zum hebräischen Hintergrund der Evangelien
(C) 2017/2018 Herbert Antonius Weiler, Hebräische Inhalte in Zusammenarbeit mit Leah Jappie
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