Hannah Arendt über das Wahrnehmungsverständnis der Naturwissenschaft

Zum Kern des Konflikts zwischen Kirche und Galilei

 

 

 

aus: Vita Aktiva, S. 252 - 257

 

 

Die von aller Bestätigung durch Erfahrung unabhängige Vorstellung einer um die Sonne kreisenden Erde war der Vorwelt so wenig unbekannt, wie es die zeitgenössischen Atom­theorien wären, wenn sie wirklich nur Theorien und nicht von Experimenten bestätigt und in der wirklichen Welt anwendbar wären.

Was aber nie­mand vor Galilei getan hat, war, ein Gerät, das Teleskop, so zu benutzen, daß die Geheimnisse des Universums sich menschlicher Erkenntnis „mit der Ge­wißheit sinnlicher Wahrnehmung" offenbarten; was nichts anderes heißt, als daß er die Fassungskraft einer erdgebundenen Kreatur mit einem kör­perlichen Sinnesapparat so erweiterte, daß sie über sich hinauslangen kann in Regionen, die sich ihrem Zugriff entziehen und darum sich bisher nur in der Ungewißheit der Spekulation und der Einbildung überhaupt geöff­net hatten.

 

Am besten und schnellsten begriff diesen immensen Bedeutungsunterschied zwischen dem kopernikanischen System und Galileis Entdeckungen die ka­tholische Kirche, die gar nichts dagegen gehabt hatte, daß die Astronomen sich der Theorie einer um die Sonne kreisenden Erde bedienten, solange als es sich nur um eine Hypothese für mathematische Berechnungen han­delte; aber, wie der Kardinal Bellarmin Galilei gegenüber hervorhob, „es ist keineswegs das Gleiche, ob man beweist, daß diese Hypothese den Erscheinungen am Besten gerecht wird, oder ob man empirisch die Bewegung der Erde demonstriert".

 

Wie sehr diese Bemerkung den Kern der Sache traf, kann man vielleicht am klarsten an dem plötzlichen Stimmungsumschwung erkennen, der die gelehrte Welt traf, als Galileis Entdeckungen bekannt wurden. Von da ab hören wir nichts mehr von dem Enthusiasmus, mit dem Giordano Bruno ein unendliches Weltall, nichts mehr von der jubelnden Frömmigkeit, mit der Kepler die Sonne betrachtete, „den vollkommensten aller Himmelskörper, dessen Wesen aus nichts besteht als aus reinem Licht", die Wohnstätte Gottes und der seligen Engel", nichts mehr von der nüch­ternen Genugtuung, mit der der Cusaner meinte, nun habe die Erde end­lich die ihr angestammte Heimat in dem bestirnten Himmel gefunden. 

 

In­dem Galilei seine Vorgänger „bestätigte", etablierte er als tatsächliche Wirk­lichkeit, was bis dahin nur im Flug der Spekulation und der Einbildungs­kraft gesichtet worden war; und die unmittelbare philosophische Reaktion auf diese Wirklichkeit war nicht Jubel, sondern der Zweifel des Descartes, mit dem die moderne Philosophie - diese „Schule des Mißtrauens", wie sie Nietzsche einmal genannt hat - anhebt, die im Grunde von Anfang bis Ende der Überzeugung war, daß „nur auf der festen Grundlage einer un­nachgiebigen Verzweiflung fortan die menschliche Seele sich ihre Heim­stätte mit Gewißheit bauen kann" (...)

 

"Das Naturbild der modernen Physik, dessen Anfänge man bis auf Galilei zurückverfolgen kann, und das dadurch entstand, daß das Vermögen des menschlichen Sinnesapparats, Wirklichkeit zu vermitteln, in Frage gestellt wurde, zeigt uns schließlich ein Universum, von dem wir nicht mehr wissen,

als daß es in bestimmter Weise unsere Meßinstrumente affiziert; und das, was wir von unseren Apparaten ablesen können, sagt über die wirklichen Eigenschaften,  nicht mehr aus, als eine Telephonnummer von dem aussagt, der sich meldet, wenn wir sie wählen. Anstatt

mit objektiven Eigenschaften, mit anderen Worten, finden wir uns mit den von uns selbst erbauten Apparaten konfrontiert, und anstatt der Natur oder dem Universum begegnen „wir gewissermaßen immer nur uns selbst"( Zitat aus : Werner Heisenberg. Naturbild der heutigen Physik, 155, S. 17, )

 

 

Wenn die Wissenschaft heute darauf hinweist, dass wir ebensogut annehmen können, dass die Erde sich um die Sonne dreht, wie dass die Sonne sich um die Erde dreht, dass beide Annahmen sich mit dem Phänomen in Einklang bringen lassen und dass der Unterschied nur eine Differenz des jeweils gewählten Bezugspunktes ist, so bedeutet dies keineswegs eine Rückkehr zu der Position des Kardinals Bellarmin oder des Kopernikus, also zu einer astronomischen Wissenschaft, die mit Hypothesen den beobachteten Phänomenen gerecht zu werden suchte. Es bedeutet vielmehr, dass wir den archimedischen Punkt im Weltall noch weiter von uns weg verlegt haben, so weit nämlich, dass weder Sonne noch Erde als Mittelpunkt eines geschlossenen Systems erscheinen. Es bedeutet, dass wir uns auch an ein Sonnensystem nicht mehr gebunden fühlen ... 

 

 

 

 

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