Nach allem was wir wissen ist "die Zeit"

seit dem Beginn des Kosmos immer nur

in einer Richtung abgelaufen...

Hoimar von Ditfurth,

Innenansichten eines Artgenossen, Meine Bilanz

 

 

 

 

 

Zur wissenschaftlichen Bescheidenheitsformel

 

 

 

 Wissen und Wissenschaft

 

 

Die abstrahierende Endung -schaft deutet im Deutschen eine Formalisierung oder Institutionalisierung an: das Brüderliche wird zur Bruderschaft, das Herrschen zur Herrschaft, das Gemeinsame zur Gemeinschaft. Die Erlangung von Wissen wird zur Wissenschaft.

 

Der Begriff der Wissenschaft geht dabei vom Wissen als einer Menge aus, die es in der ihr gewidmeten Schaft methodisch zu erwerben gilt. Die Schaft - oder das Geschäft des Wissenserwerbs.

 

Auf diese Weise der kategorisierten Wissenserlangung wird Wissen als Quantität begriffen, als Pensum und Bestand, nicht aber als ein Wissen im Sinne der Erkenntnis eines Prinzips oder eines Wesens. Denn dieses ist der Institutionalisierung entzogen.

 

Der Absolutheitsanspruch des methodischen Wissenserwerb drückt sich in der von Wissenschaftsvertretern gerne geübten Bescheidenheitsformel aus: Soweit wir wissen...

 

Bei Diskussionen und Stellungnahmen wird von Repräsentanten des Wissenschaftsbetrieb auf diese Weise erkenntnistheoretische Bescheidenheit bekundet: Nach unserem bisherigen Wissensstand...

Dies soll redliche Erkenntniskritik und diszipliniertes Wissenschaftlertum unterstreichen.

 

Es hebt sich freilich auf, anderes, als das zu wissen, was dem Wissensstand entspricht.

Warum aber muss eine Selbstverständlichkeit betont werden?

 

Tatsächlich enthält die Bescheidenheitsformel einen erkenntnistheoretischen Absolutheitsanspruch. Den Anspruch, dem zufolge Wissen als methodisch zu erwerbende Summe von Feststellbarkeiten gilt.

 

Die Bescheidenheitsformel legt die Allmachtsgebärde des Wissenschaftsbetriebs bloß. In dem Hinweis auf das lediglich bisher erworbene Wissen steckt der Anspruch, auch das nicht wissenschaftlich Zugängliche sei grundsätzlich wissenschaftlich zugänglich. Es ist gleichsam nur noch nicht sortiert.

 

Nach unserem bisherigen Wissensstand will besagen, dass ein Wissen aus beobachtbaren Fakten bestehe, aus Feststellbarkeiten. Das bestehende Wissen diesseits und das noch ausstehende Wissen jenseits der Grenze des Wissensstandes ist darin gleichermaßen Pensum des methodologischen Erkenntniserwerbs.

 

Dieser erhebt Anspruch auf das Geheimnis und legt sich über das vom einzelnen Menschen Erfahrbare.

 

Vom Geheimnis weiß jeder, im Geheimen, und zwischen den Menschen. Aber es ist nicht feststellbar.

 

Romano Guardini bemerkte zum Begriff der Feststellbarkeit, das Festgestellte sei fest gestellt und damit aus der Bewegung und Begegnung herausgeholt, nicht mehr erfahrbar.

 

Von Heraklit heißt es, er habe gesagt, er wisse alles.

Von Sokrates wird die Aussage wiedergegeben, er wisse, dass er nichts wisse.

Beide meinten das Gleiche.

 

 

 

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Der Essay findet sich in dem neu erschienenen Buch: 

Warum Moses das versprochene Land nicht betreten durfte / Essays und Betrachtungen