C. G. JUNG: RELIGION UND PSYCHOLOGIE

(Entgegnung auf Martin Bubers Aufsatz "Religion und modernes Denken")

   

 

 

Vor einiger Zeit hatten die Leser Ihrer Zeitschrift Gelegenheit, einen posthumen Aufsatz Graf Keyserlings zu lesen, in welchem ich als »ungeistig« qualifiziert wurde.

Nun finde ich in der letzten Nummer einen Aufsatz Martin Bubers, welcher sich ebenfalls um meine Klassifikation bemüht.

Ich bin seiner Darstellung insofern zu Dank verpflichtet, als sie mich aus dem Stande der Ungeistigkeit, in welchem mich Graf Keyserling dem deutschen Publikum vorgestellt hat, in die Sphäre der Geistigkeit hebt, wennschon in jene des frühchristlichen Gnostizismus, welcher seitens der Theologen von jeher scheel angesehen wurde.

Komischerweise fällt dieses Urteil zeitlich zusammen mit einer Meinungsäußerung aus maßgeblicher theologischer Quelle, die mich des Agnostizismus, also des geraden Gegenteils von »Gnostizismus«, bezichtigt.

Wenn die Meinungen über einen Gegenstand dermaßen weit auseinandergehen, so besteht meines Erachtens der begründete Verdacht, daß keine derselben richtig sei, d. h. daß ein Mißverständnis vorliege.

Warum wird der Frage, ob ich ein Gnostiker oder Agnostiker sei, so viel Aufmerksamkeit geschenkt? Warum wird nicht einfach gesagt, daß ich ein Psychiater bin, dem es in erster Linie daran gelegen ist Erfahrungsmaterial darzustellen und zu deuten? Ich versuche ja, Tatsachen zu erforschen und dem Verständnis näher zu rücken. Darüber darf die Kritik nicht einfach hinweghuschen, um dann einzelne Sätze außerhalb ihres Zusammenhangs anzugreifen.

 

Zur Stützung seiner Diagnose benützt Buber sogar eine von mir vor beinahe vierzig Jahren begangene Jugendsünde, die darin bestand, einmal ein Gedicht verbrochen zu haben. Ich habe darin gewisse psychologische Einsichten in »gnostischem« Stil ausgedrückt, weil ich damals begeistert die Gnostiker studierte. Mein Enthusiasmus gründete sich auf die Entdeckung, daß sie anscheinend die ersten Denker waren, die sich (auf ihre Art) mit den Inhalten des sog. kollektiven Unbewußten beschäftigten. Ich ließ damals das »Gedicht« unter einem Pseudonym drucken und verschenkte einige Exemplare an Bekannte, nicht ahnend, daß es in einem Ketzerprozeß einmal wider mich zeugen würde.

 

Ich darf meinen Kritiker darauf hinweisen, daß ich nicht bloß als Gnostiker und dessen Gegenteil, sondern auch als Theist und Atheist, als Mystiker und als Materialist aufgefaßt worden bin. Ich will in dem Konzert so mannigfaltiger Meinungen dem, was ich von mir selber halte, kein zu großes Gewicht geben, sondern ein Urteil über mich aus anscheinend unverdächtiger Quelle, nämlich einem Leitartikel des »British Medical Journal« vom 9. Februar 1952, zitieren: "Facts first and theories later is the key-note of Jung's work. He is an empiricist first and last". Diese Ansicht findet meinen Beifall.

Wer meine Arbeiten nicht kennt, wird sich gewiß die Frage vorlegen, woher es dann eigentlich komme, daß derart gegensätzliche Meinungen über einen und denselben Gegenstand entstehen können? 

 

Darauf ist zu antworten daß sie samt und sonders von »Metaphysiken!« erdacht sind, nämlich von Leuten, die aus irgendwelchen Gründen über unwißbare Dinge des Jenseits Bescheid zu wissen glauben. Ich habe nie gewagt zu behaupten, daß es derartige Dinge nicht gebe; ich habe aber auch nicht gewagt zu meinen, daß eine meiner Aussagen diese Dinge irgendwie berühre oder sie auch nur korrekt darstelle. Ich bezweifle, daß unsere Vorstellung mit der Natur der Dinge an sich identisch ist, und dies aus sehr naheliegenden naturwissenschaftlichen Gründen.

 

Da nun in der empirischen Psychologie Vorstellungen von und Meinungen über metaphysische bzw. religiöse Gegenstände eine sehr große Rolle spielen, so bin ich aus praktischen Gründen genötigt, entsprechende Begriffe zu handhaben. Dabei bin ich mir bewußt, daß ich es mit anthropomorphen Anschauungen zu tun habe und nicht mit wirklichen Göttern und Engeln, obschon dergleichen (archetypiche) Bilder kraft ihrer spezifischen Energie sich so autonom benehmen, daß man sie metaphorisch als »psychische Dämonen« bezeichnen könnte. 

 

Diese Tatsache der Autonomie ist sehr ernst zu nehmen; erstens einmal vom theoretischen Standpunkt, indem sie die Dissoziabilität und faktische Dissoziation der Psyche ausdrückt; und zweitens praktisch, als sie die Grundlage zur dialektischen Auseinandersetzung zwischen dem Ich und dem Unbewußten,  einem Hauptstück der psychotherapeutischen Methode, bildet. Jedermann, der einige Kenntnise von der psychologischen Struktur einer Neurose hat, weiß, daß der pathogene Konflikt auf der Gegensatzposition des Unbewußten zum Bewußtsein beruht. Die sogenannten »Mächte des Unbewußten« sind keine willkürlich zu manipulierenden, intellektuellen Begriffe, sondern gefährliche Gegner, die in der Ökonomie der Persönlichkeit mitunter furchtbare Verwüstungen anrichten können. 

Sie sind alles, das man als ein seelisches »Gegenüber« je nachdem wünschen oder fürchten kann. Der Laie allerdings vermeint, es mit einer dunkeln Organkrankheit zu tun zu haben. Der Theologe, der dahinter den Teufel vermutet, steht aber der psychischen Wahrheit bedeutend näher. Ich fürchte,  daß  Buber aus  begreiflicher  Unkenntnis der psychiatrischen Erfahrung nicht versteht, was ich mit »Wirklichkeit der Seele« und mit dem dialektischen Prozeß der Individuation meine. Das Ich steht nämlich in erster Linie seelischen Mächten gegenüber, welche uralt geheiligte Namen tragen, um derentwillen sie von jeher mit metaphysischen Existenzen identifiziert werden. 

 

Die Analyse des Unbewußten hat schon längst das Vorhandensein dieser »Mächte« in Gestalt archetypischer Bilder nachgewiesen, die aber nicht mit den entsprechenden Denkbegriffen identisch sind. Man kann glauben, daß die Begriffe des Bewußtseins vermöge der Inspiration des Hl. Geistes unmittelbare und korrekte Darstellungen ihres metaphysischen Gegenstandes seien. 

 

Diese Überzeugung ist natürlich nur dem möglich, der das Charisma des Glaubens besitzt. Dieses Besitzes kann ich mich leider nicht rühmen, weshalb ich mir auch nicht einbilde, daß ich, wenn ich über einen Erzengel etwas aussage, damit eine metaphysische Feststellung gemacht hätte. Vielmehr habe ich über etwas Erfahrbares, nämlich über eine der sehr fühlbaren »Mächte des Unbewußten« geurteilt. Letztere sind numinose typi bzw. unbewußte Inhalte, Vorgänge und Dynamismen. Diese typi sind, wenn man so sagen darf, immanenttranszendent. 

 

Da mein einziges Erkenntnismittel die Erfahrung ist, so kann ich diese Grenze nicht überschreiten und mir deshalb nicht vorstellen, daß mit meiner Beschreibung das Porträt eines wirklichen metaphysischen Erzengels getroffen hätte. Ich habe nur einen psychischen Faktor dargestellt, welchem allerdings ein bedeutender Einfluß auf das Bewußtsein zukommt. Er bildet kraft seiner Autonomie eine Gegenposition zum subjektiven Ich, indem er ein Stück der objektiven Psyche darstellt. Man kann ihn daher als ein »Du« bezeichnen. Für dessen Wirklichkeit zeugen mir die geradezu teuflischen Taten unserer Zeit, die sechs Millionen ermordeter Juden, die ungezählten Opfer der Sklavenschinderei in Rußland und die Erfindung der Atombombe, um einige Beispiele der düsteren Seite zu nennen. Ich habe andererseits aber auch jenes gesehen, das mit den Worten Schönheit, Güte, Weisheit und Gnade ausgedrückt wird. Diese Erfahrungen von den Tiefen und Höhen menschlicher Natur berechtigen zum metaphorischen Gebrauch des Terminus »Daimon«.

 

Man wolle nicht übersehen, daß ich mich mit jenen psychischen Phänomenen befasse, welche sich empirisch als die Grundlagen metaphysischer Begriffe erweisen lassen, und daß, wenn ich z. B. »Gott« sage, ich mich überhaupt auf gar nichts anderes beziehen kann, als auf nachweisbare psychische Vorlagen, die nun allerdings von erschütternder Wirklichkeit sind. Wem dies unglaubwürdig vorkommen sollte, dem möchte ich einen nachdenklichen Gang durch eine Irrenanstalt empfehlen.        ||

Die »Wirklichkeit der Seele« ist meine Arbeitshypothese und meine Haupttätigkeit besteht darin, ein Tatsachenmaterial zu sammeln, zu beschreiben und zu erklären. Ich habe weder ein System noch eine allgemeine Theorie aufgestellt, sondern nur Hilfsbegriffe formuliert, die mir als Werkzeuge dienen, wie dies in jeder Naturwissenschaft üblich ist. 

 

Wenn Buber meinen Empirismus als Gnostizismus mißversteht, so liegt ihm ob zu beweisen, daß die Tatsachen, die ich beschreibe, nichts als Erfindungen sind. Wenn ihm dieser Beweis am empirischen Material gelingen sollte, dann bin ich in der Tat ein Gnostiker. Aber dann wird sich mein Kritiker in der unangenehmen Lage befinden, alle religiösen  Erlebnisse überhaupt als Selbsttäuschungen abtun zu müssen. Vorderhand bin ich der Ansicht, daß Bubers Urteil irregeführt worden ist. Dies wird vor allem deutlich darin, daß er anscheinend nicht begreifen kann, inwiefern ein »autonomer seelischer Inhalt«, wie das Gottesbild, dem Ich gegenüber zu treten vermag, und daß einer derartigen Beziehung nichts an Lebendigkeit mangelt. Es ist gewiß nicht die Aufgabe einer Erfahrungswissenschaft festzustellen, inwiefern ein solcher seelischer Inhalt vom Dasein einer metaphysischen Gottheit bewirkt und bestimmt sei.  

 

Das ist Sache der Theologie, der Offenbarung und des Glaubens. Mein Kritiker scheint sich nicht bewußt zu sein, daß, wenn er selber von Gott spricht, er zunächst aus seinem Bewußtsein und sodann aus seiner unbewußten Voraussetzung aussagt. 

Von welchem metaphysischen Gott er spricht, weiß ich nicht; ist er ein orthodoxer Jude, so spricht er von der Gottheit, welche ihre im Jahre 1 erfolgte Inkarnation noch nicht offenbart hat. Ist er ein Christ, so weiß er um die Menschwerdung, von der Jahwe noch nichts vermuten läßt. Ich zweifle nicht an seiner Überzeugung, in lebendiger Beziehung zu einem göttlichen Du zu stehen, bin aber nach wie vor der Meinung, daß diese Beziehung zunächst zu einem autonomen seelischen Inhalt geht, welcher von ihm so und vom Papst anders definiert wird. 

Dabei erlaube ich mir nicht das geringste Urteil darüber, ob oder inwiefern es einem metaphysischen Gott gefallen hat, sich dem gläubigen Juden als denjenigen vor der Menschwerdung, den Kirchenvätern als den nachherigen Dreieinigen, Protestanten als den alleinigen Erlöser ohne und dem jetzigen Papste als mit einer Corredempirix zu offenbaren. 

 

Oder sollen wir daran zweifeln, daß die Vertreter anderer Observanzen, einschließlich des Islam, des Buddhismus, Hinduismus, Taoismus usw. nicht eben dieselbe lebendige Beziehung zu »Gott« bzw. zu Nirvana und Tao haben, wie Buber zu seinem ihm eigentümlichen Gottesbegriff?

Es ist merkwürdig, daß er an meiner Behauptung, Gott könne nicht losgelöst vom Menschen existieren, Anstoß nimmt und sie für eine transzendente Aussage hält. Ich sage doch ausdrücklich, daß alles, schlechthin alles, was von »Gott« ausgesagt wird, menschliche Aussage, d.h. psychisch sei. Das Bild, das wir von Gott haben oder uns machen, ist doch nie »losgelöst vom Menschen«? Kann mir Buber angeben, wo Gott sein eigenes Bild, losgelöst vom Menschen, gemacht hat? Wie kann etwas derartiges konstatiert werden und von wem? 

 

Ich will hier einmal -ausnahmsweise — transzendent spekulieren bzw.  »dichten«: Gott hat allerdings, ohne Mithilfe des Menschen, ein unbegreiflich herrliches und zugleich unheimlich widerspruchsvolles Bild von sich selber gemacht und es dem Menschen als einen Archetypus ... ins Unbewußte gelegt, nicht damit die Theologen aller Zeiten und Zonen sich darüber in die Haare geraten, sondern, daß der nichtanmaßliche Mensch in der Stille seiner Seele auf ein ihm verwandtes, aus seiner eigenen seelischen Substanz erbautes Bild blicken mag, welches alles in sich hat, was er sich je über seine Götter oder über seinen Seelengrund ausdenken wird.

Dieser Archetypus, dessen Vorhandensein nicht nur die Völkergeschichte, sondern auch die psychologische Erfahrung am einzelnen Individuum bestätigt, genügt mir vollkommen. Er ist so menschlich nahe und doch so fremd und anders und, wie alle Archetypen, von größter determinierender Wirkung, mit welcher Auseinandersetzung unbedingt angezeigt ist. Die dialektische Beziehung zu den autonomen Inhalten des kollektiven Unbewußten bildet deshalb, wie gesagt, einen wesentlichen Teil der Therapie.

 

Buber irrt sich in der Annahme, daß ich, von einer »gnostischen Grundanschauung« ausgehend, metaphysische Aussagen »bearbeite«. Man darf ein Ergebnis der Empirie nicht als eine philosophische Voraussetzung mißverstehen, denn es ist nicht deduktiv gewonnen, sondern aus einem klinischen Tatsachenmaterial abgeleitet. Ich möchte meinem Kritiker empfehlen, einmal Biographien von Geisteskranken zu lesen, wie z. B. John Custance, »Wisdom, Madness and Folly« (London 1951) oder D. P. Schreber, »Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken« (Leipzig 1903), die gewiß nicht, so wenig wie ich, von gnostischen Voraussetzungen ausgegangen sind, oder die Analyse eines Mythenstoffes, wie z. B. die vortreffliche Arbeit seines Nachbarn in Tel Aviv, Dr. Erich Neumann, »Apuleius: Amor und Psyche« (Zürich 1952). 

 

Meine Behauptung der Analogie und nahen Verwandtschaft der Produkte des Unbewußten mit gewissen metaphysischen Vorstellungen gründet sich auf meine professionelle Erfahrung. Ich darf in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, daß ich eine ganze Anzahl von maßgebenden Theologen katholischer wie protestantischer Observanz kenne, welche meinen empirischen Standpunkt ohne weiteres verstehen. Ich habe daher keinen Anlaß, meine Darstellungsweise für dermaßen irreführend zu halten, wie die Andeutungen Bubers es wollen glauben machen.

 

Noch ein Mißverständnis, das mir öfters begegnet ist, möchte ich erwähnen. Es betrifft die merkwürdige Annahme,, daß, wenn die Projektionen »zurückgezogen« würden, vom Objekt nichts mehr übrig bleibe. Wenn ich meine Fehlurteile über einen Menschen korrigiere, so habe ich diesen damit nicht negiert und zum Verschwinden gebracht; im Gegenteil, ich sehe ihn jetzt annähernd richtig, was einer Beziehung nur förderlich sein kann. Wenn ich nun der Ansicht bin, daß alle Aussagen über Gott aus der Seele in erster Linie hervorgehen und daher vom metaphysischen Wesen unterschieden werden müssen, so ist damit weder Gott geleugnet noch der Mensch an Stelle Gottes gesetzt.

 

Es ist mir, offen gestanden, unsympathisch, denken zu müssen, daß jedesmal, wenn ein Redner die Bibel zitiert oder seine sonstigen religiösen Meinungen ventiliert, der metaphysische Gott selber durch ihn rede. Der Glaube ist gewiß eine großartige Sache, wenn man ihn besitzt, und das Glaubenswissen ist vielleicht viel vollkommener, als was wir mit unserer mühseligen und kurzatmigen Empirie je zustande bringen. Das Gebäude der christlichen Dogmatik z. B. steht zweifellos auf viel höherer Stufe als die etwas wilden Philosophounema der Gnostiker. Die Dogmen  sind  pneumatische  Strukturen von höchster Schönheit und einem bewundernswerten Sinn, um den ich mich in meiner Art gemüht habe. Daneben lassen sich unsere wissenschaftlichen Versuche, Modelle der »objektiven Psyche« herzustellen, überhaupt nicht sehen.

Sie sind erd-und wirklichkeitsnah, widerspruchsvoll, unfertig, logisch und  ästhetisch   unbefriedigend.   Naturwissenschaftliche Begriffe und vollends medizinisch-psychologische gehen nicht aus sauberen und wohlanständigen Denkprinzipien dervor; sondern ergeben sich aus der täglichen Arbeit in den Niederungen des banalen menschlichen Daseins und seiner Qual. 

Empirische Begriffe sind irrationaler Natur. Der Philosoph, der sie so kritisiert, wie wenn sie philosophische Begriffe wären, führt einen Kampf gegen Windmühlen und gerät, wie Buber mit dem Begriff des Selbst, in die größten Schwierigkeiten. 

 

Empirische Begriffe sind Namen für vorhandene Tatsachenkomplexe. Angesichts der furchtbaren Paradoxie unseres Daseins ist es begreiflich, wenn das Unbewußte ein entsprechend widerspruchsvolles Gottesbild enthält, welches mit der Schönheit, Erhabenheit und Reinheit des dogmatischen Gottesbegriffes nicht recht zusammenstimmen will. Der Gott Hiobs und des 89. Psalmes ist allerdings etwas wirklichkeitsnaher und paßt in seinem Verhalten nicht übel zu dem Gottesbild des Unbewußten. Letzteres begünstigt freilich mit seiner Anthropos-Symbolik die Inkarnationsidee. Ich fühle mich nicht dafür verantwortlich, daß seit dem Alten Testament die Dogmengeschichte einige Fortschritte gemacht hat. Ich predige damit keine neue Religion, denn dazu müßte ich mich ja zum mindesten - nach althergebrachtem Gebrauch - auf eine göttliche Offenbarung berufen. Ich bin essentiell Arzt, der es mit der Krankheit des Menschen und seiner Zeit zu tun hat und auf Heilmittel bedacht ist, die der Wirklichkeit des Leidens entsprechen. Es steht nicht nur Buber, sondern jedem Theologen frei, in Umgehung meiner odiosen Psychologie meine Patienten mit dem »Wort« zu heilen. Ich heiße diesen Versuch mit offenen Armen willkommen. Da jedoch die geistliche cura animarum nicht immer den gewünschten Erfolg zeitigt, so haben vorderhand die Ärzte zu tun, die eben nichts Besseres zur Hand haben, als jene bescheidene »Gnosis«, welche die Empirie ihnen bietet. Oder weiß da einer meiner Kritiker besseren Rat? 

 

Man ist als Arzt in einer peinlichen Lage, denn man kann mit dem Wörtchen »sollte« leider gar nichts anfangen. 

Wir können von unseren Patienten keinen Glauben verlangen, den sie ablehnen, weil sie ihn nicht verstehen, oder der ihnen nicht zusagt, auch wenn wir ihn selber hätten. Wir sind auf die Heilungsmöglichkeiten angewiesen, welche in der Natur des Kranken vorhanden sind, gleichgültig, ob die daraus hervorgehenden Anschauungen mit irgendwelchen bekannten Konfessionen oder Philosophien übereinstimmen oder nicht. Mein Tatsachenmaterial scheint von allem etwas zu enthalten, Primitives, Westlichen und Östliches. 

 

Es gibt kaum ein Mythologem, das nicht gelegentlich angetönt wird, und keine Ketzerei, die nicht etwas von ihrer Absonderlichkeit beimischt. So muß j wohl die kollektive Tiefenschicht der menschlichen Seele beschaffen sein. Darüber mag sich der glaubensfrohe Intellektualist und Rationalist wohl entsetzen und mich des ruchlosesten Eklektizismus anklagen, wie wenn ich die Tatsachen der menschlichen Natur- und Geistesgeschichte erfunden und daraus ein widerliches theosophisches Gebräu hergestellt hätte. Wer einen Glauben besitzt oder philosophisch zu reden vorzieht, der braucht sich allerdings nicht mit Tatsachen abzumühen. Ein Arzt aber kommt um die schauervolle Wirklichkeit der menschlichen Natur nicht herum.

 

Meine Formulierungen können von Vertretern überlieferter Systeme natürlich kaum richtig verstanden werden. So wäre ein Gnostiker mit mir keineswegs zufrieden, sondern würde mir den Mangel an einer Kosmogonie und die Stümperhaftigkeit meiner Gnosis in bezug auf die Ereignisse im Pleroma vorwerfen. Ein Buddhist würde meine Verblendung durch die Maya und ein Taoist meine Kompliziertheit beanstanden. Ein orthodoxer Christ vollends kann kaum anders, als sich darüber aufhalten, mit welcher Unbekümmertheit und Respektlosigkeit ich durch den Himmel der dogmatischen Ideen navigiere. Ich muß aber meine unbarmherzigen Kritiker bitten, beachten zu wollen, daß ich von Tatsachen ausgehe, für welche ich Deutung suche.

 

 

C. G. Jungs Entgegnung erschien in der Zeitschrift  MERKUR, VI/5, Mai 1952,

 

 

 


 

 

 MARTIN BUBER:  REPLIK AUF  EINE ENTGEGNUNG  C. G. JUNGS

 

Der Erwiderung C G. Jungs gegenüber genügt es, an der Hand seiner Argumentation mein Anliegen erneut klarzustellen.

Ich habe nicht, wie er meint, irgendwelche Bestandteile seines psychiatrischen Erfahrungsmaterials in Frage gezogen; das wäre gewiß unbefugt.

Ich habe ebensowenig an einer seiner psychologischen Thesen Kritik geübt; auch das ist nicht meine Sache.

Ich habe lediglich nachgewiesen, daß er über die religiösen Gegenstände Behauptungen formuliert, die den Bereich des Psychiatrischen und Psychologischen - entgegen seiner Versicherung, streng innerhalb seiner zu verbleiben - überschreiten.

 

Ob ich diesen Nachweis geführt habe, kann der gewissenhafte Leser durch Nachprüfung meiner Zitate in ihrem Kontext feststellen, was ich ihm durch sorgfältige Quellenangaben zu erleichtern bemüht gewesen bin. Jung bestreitet es. Welcher Methode er sich dabei bedient, sei an seiner Entgegnung erläutert.

Ich habe darauf hingewiesen, Jung bezeichne es als eine »Tatsache«, »daß die göttliche Wirkung dem eigenen Innern entspringt«, und er stelle diese Tatsache der »orthodoxen Auffassung« gegenüber, wonach Gott »für sich existiert«; er erklärt, Gott existiere nicht losgelöst vom menschlichen Subjekt. 

 

Die kontroverse Frage lautet somit:

»Ist Gott lediglich ein psychisches Phänomen oder existiert er auch unabhängig von der Psychik des Menschen? Jung antwortet: Gott existiert nicht für sich. 

 

Man kann die Frage auch so fassen; Entspringt das, was der Gläubige die göttliche Wirkung nennt, lediglich seinem eigenen Innern oder kann darin auch die eines überpsychischen Seins befaßt sein? 

Jung antwortet: Es entspringt dem eigenen Innern. 

 

Dazu habe ich vermerkt, das seien nicht legitime Aussagen eines Psychologen, dem es als solchem nicht zustehe zu deklarieren, was jenseits des Psychischen bestehe und was nicht, oder inwiefern es anderswoher kommende Wirkungen gebe. 

Nun aber erwidert Jung: Ich habe ja nur über das Unbewußte geurteilt! Und: »Ich sage doch ausdrücklich, daß alles, schlechthin alles [von mir hervorgehoben], was von Gott ausgesagt wird, menschliche Aussage, das heißt psychisch sei.« Was er freilich, merkwürdigerweise, dann wieder so einschränkt, er sei der Ansicht, »daß alle Aussagen über Gott aus der Seele in erster Linie [von mir hervorgehoben] hervorgehen.«

 

Man halte zunächst den ersten dieser Sätze mit den von mir angeführten Thesen Jungs zusammen.

Über eine der Mächte des Unbewußten mit Nachdruck zu erklären, ihre Wirkung entspringe dem eigenen Innern, oder sie existiere nicht losgelöst vom menschlichen Subjekt, wäre, nachdem einmal die Terminologie des  »Unbewußten« festgesetzt worden ist, eine sinnwidrige Tautologie; denn es würde nichts anderes bedeuten als: der als das Unbewußte bezeichnete psychische Bereich ist psychisch. 

 

Einen Sinn bekommen die Thesen erst dadurch, daß sie, mit ihrem Nein, über die Sphäre der Mächte des Unbewußten und die psychische Sphäre überhaupt hinauslangen.  Daß sie diesen Sinn hätten, stellt Jung nun freilich in Abrede. Und er beruft sich darauf, alle Aussagen über Gott seien »menschliche Aussagen, das heißt psychisch«. Dieser Satz verdient eine genauere Betrachtung. 

 

Ich sehe gewiß keine Möglichkeit, eine Diskussion anders als auf dem Boden dieser Voraussetzung zu führen.

Nicht bloß die Aussagen über Gott, sonderen alle Aussagen überhaupt sind »menschlich«. Aber ist denn damit irgend etwas, Positives oder Negatives, über ihren Wahrheitsgehalt konstatiert?

 

Die Unterscheidung, um die es hier geht, ist doch nicht  die  zwischen  psychischen  und nichtpsychischen Aussagen, sondern zwischen psychischen Aussagen, denen eine außerpsychische Wirklichkeit entspricht, und psychischen Aussagen, denen keine entspricht. 

Solche Unterscheidung zu vollziehen ist die psychologische Wissenschaft aber nicht befugt; sie überhebt, sie verhebt sich, wenn sie es tut. Was der psychologischen Wissenschaft hier zusteht, ist ausschließlich eine motivierte Zurückhaltung. 

 

Jung übt sie nicht, wenn er erklärt, Gott könne nicht losgelöst vom Menschen existieren. Denn, noch einmal: ist das eine Aussage über einen Archetypus, Gott genannt, so bedarf es doch wohl der emphatischen Versicherung nicht, er sei ein psychischer Faktor (was könnte er denn sonst sein?); ist es aber eine Aussage über ein diesem psychischen Faktor irgend entsprechendes überpsychisches Sein - nämlich die Aussage, es gebe ein solches Sein nicht so waltet hier statt der gebotenen Zurückhaltung eine unerlaubte Überschreitung der Grenzen.

Wir wollen doch endlich einmal aus dieser geistvollen Zweideutigkeit herauskommen!

 

Nun aber macht mich Jung darauf aufmerksam, die Menschen hätten von Gott doch nur viele und verschiedene Bilder, die sie selber machen. Das meine ich schon gewußt und auch mehrfach ausgesprochen und erläutert zu haben.  Aber das Wesentliche bleibt, daß es eben Bilder sind. 

Kein Glaubender wähnt,  eine  Photographie  oder  ein  magisches Spiegelbild Gottes zu besitzen; jeder weiß: ich habe, wir haben das gemalt.

 

Aber eben als Bild, als Bildnis; das heißt, in der Glaubensintention auf den Bildlosen, den die Bilder  »darstellen«, das heißt meinen.

Diese Glaubensintention auf ein Seiendes, auf einen Seienden, ist den aus mannigfacher Erfahrung glaubenden Menschen gemeinsam, und wenn sonst nichts ihnen gemeinsam wäre. Gewiß, »das moderne Bewußtsein«, mit dem Jung sich an unmißverständlichen Stellen seiner Schriften identifiziert hat, »perhorresziert« den Glauben. Aber die Ergebnisse dieses Perhorreszierens in Aussagen einzuführen, die als streng psychologische auftreten, geht nicht an. 

Weder die psychologische noch sonst eine Wissenschaft ist zuständig, den Wahrheitsgehalt des Gottesglaubens zu untersuchen. Es steht ihren Vertretern zu, ihm fernzubleiben; es steht ihnen nicht zu, innerhalb ihrer Disziplin über ihn zu urteilen als über etwas, das sie kennen. Die es tun, kennen ihn nicht.

 

Die Seelenlehre, die die Geheimnisse behandelt, ohne die Glaubenshaltung zum Geheimnis zu kennen, ist die moderne Erscheinungsform der Gnosis. Die Gnosis ist nicht als eine nur-historische, sondern als eine allmenschliche Kategorie zu verstehen. 

Sie - und nicht ein Atheismus, der, weil er Gottes bisherige Bilder verwerfen muß, ihn annihiliert - ist der eigentliche Widerpart der Glaubenswirklichkeit.  Ihre moderne Erscheinungsform geht mich nicht bloß ihres massiven Anspruchs wegen spezifisch an, sondern insbesondere auch der von ihr als Psychotherapie gelehrten Wiederaufnahme des karpokratianischen Motivs wegen, die Instinkte mystisch zu vergotten, statt sie im Glauben zu heiligen. 

 

Daß C. G. Jung in diesem Zusammenhang zu sehen ist, habe ich aus seinen Äußerungen belegt und kann es noch weit reichlicher tun. Sein »Abraxas«-Opusculum - das jeder unbefangene Leser nicht für ein Gedicht, sondern für ein Bekenntnis halten wird - habe ich mit herangezogen, weil hier noch in aller Deutlichkeit der ambivalente, Gut und Böse in sich ausbalancierende gnostische »Gott« verkündet wird. 

Ich gestehe, daß ich dieses binitarische Bild dem einer Quaternität, in der der Platz des Vierten entweder dem Satan oder der Madonna oder einem noch undeterminierten X zugedacht ist, ästhetisch weitaus vorziehe.

Nun aber - »Ketzergericht«?! Nichts ist mir widerwärtiger, nichts weniger meines Amtes. (Mein Gegner ahnt offenbar nicht, daß ich selber von einer Orthodoxie als Ketzer verschrien bin.) Nein, nichts Gerichtsähnliches, aber eine Kennzeichnung. Und es wird sich weisen, daß es die richtige war.

 

 

 

 

 

Erstveröffentlichung von Bubers Replik in MERKUR, VI/5, Mai 1952, S. 474-476, in Anschluß an Jungs Beitrag.

 hier entnommen aus: Gottesfinsternis, Martin Buber, Verlag Lambert Schneider 1994, S. 135 - 147: