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Essays und Betrachtungen 

   

 


 

Der freie Wille und das Libet-Experiment

 

 

 

 

Seit den 1990er Jahren wird in den Wissenschaftsressorts der Medien die Rede von der Illusion des freien Willens diskutiert. Man habe experimentell einen Beweis, so die einen, nach dem der bewussten Entscheidung ein neurologischer Impuls vorausgehe, es mithin gar nicht das Bewusstsein sei, welches die Entscheidung trifft, sondern das Gehirn. Der freie Wille und damit auch das Ich würden nur scheinbar existieren, gleichsam als eine Strategie des Gehirns um die komplexen neurologischen Prozesse zu koordinieren. 

Zwar ist in der naturwissenschaftlichen Weltsicht ein freier Wille ohnehin ausgeschlossen, da jede Bewegung und jeder Impuls als mechanisch kausal begründbar gilt und so etwas wie ein nicht-kausaler Wille keine physikalische Grundlage hat, vielmehr eine Aufhebung der Kausalität bedeutet - so auch von dem Hirnforscher Gerhard Roth im Gespräch mit dem Philosophen Nida-Rümelin proklamiert - aber durch die Erkenntnisse der Neuro-Wissenschaft sei dies nun auch im Detail untersucht und bestätigt.

Dem, was wir als unseren Willensakt erleben, ginge eine entsprechende neurologische Aktivität voraus, die diesen in Wirklichkeit veranlassen würde.

 

Die betreffenden Untersuchungen gehen zurück auf das Libet-Experiment, das im Jahre 1979 durch den Physiologen Benjamin Libet an der Universität von Chicago durchgeführt wurde.

Bei diesem Experiment sollten die Probanden innerhalb eines bestimmten Zeitraums zu einem von ihnen zu wählenden Zeitpunkt eine Handbewegung machen. Zugleich sollten sie registrieren, wann sie den bewussten Anlass oder Drang - engl. Urge - empfanden, die Bewegung auszuführen. Um diesen Zeitpunkt möglichst genau bestimmen zu können, sollten sie auf den schnell drehenden Zeiger einer großen Uhr schauen und sich die Position merken. Der Zeiger drehte dabei in zweieinhalb Sekunden eine Runde, um auf diese Weise eine präzise Datierung zu gewährleisten.

Zugleich wurde mit Elektroden am Kopf der Probanden der Anstieg des Bereitschaftspotentials gemessen, ein bestimmtes Muster im Elektroenzephalogramm, das man willentlichen Bewegungen zuordnet und das als Vorbereitung etwa eine Sekunde vorher einsetzt. 

 

Bei Libets Experiment im Jahre 1979 zeigte sich nun, dass der wahrgenommene bewusste Willensakt der Handbewegung, festgemacht an der vom Probanden registrierten Zeigerstellung der Uhr, etwa 350 Millisekunden nach dem Bereitschaftspotential und 200 Millisekunden vor der Handbewegung einsetzte. Das mit dem Willensakt verbundene Potential setzt also vor dem Willensakt ein, so die Interpretation.

Obwohl hier nicht tatsächlich der Moment der Willensbildung registriert wurde, sondern der Moment der Reflexion der Willensbildung und der anschließenden zeitlichen Zuordnung dieser Reflexion anhand der Zeigerstellung auf einem Ziffernblatt, war die weit verbreitete Schlussfolgerung, das Handeln des Menschen könne nun nicht mehr als von bewussten Entscheidungen bestimmt betrachtet werden, sondern als das Ergebnis von Hirnprozessen. 

Der eigene Wille eine Täuschung. In Wirklichkeit dem Gehirn folgend, das zuvor schon festgelegt hat, wann wir etwas tun und was wir tun. Die Willensfreiheit sei mithin eine Illusion.  

Libet selber negierte den freien Willen nicht. Er räumte trotz des dem Willensakt vorausgehenden Bereitschaftspotentials eine Veto-Möglichkeit ein. Andere wiederum meinten auch die Veto-Entscheidung neurologisch determinieren zu können.

 

Die begriffliche Inkonsistenz der Schlussfolgerung wird insbesondere von philosophischer Seite zur Sprache gebracht, etwa hinsichtlich der Widersprüchlichkeit, nachweisen zu wollen,  es gebe keinen Willen.  Aber auch methodologische Einwände wurden artikuliert. So könne die Ausführung einer vorbestimmten Handbewegung binnen eines festgelegten Zeitraums, bei der die Versuchsteilnehmer allein zu entscheiden haben, wann sie diese ausführen, nicht als Prüfung des freien Willens gelten, vielmehr sei die eigentliche Willensentscheidung schon getroffen, nämlich sich auf das Experiment einzulassen.

Tatsächlich birgt die Anordnung, die Probanden mögen registrieren, wann sie einen Drang  verspüren, bereits eine Entäußerung des freien Willens, eine Passivität gegenüber einem erwarteten Impuls, der gleichsam ein äußerlicher ist, und nicht aus dem Ich, aus der eigenen Bewegung der Person heraus geboren. Die Willensentscheidung vorab als Drang  zu definieren,  auf den der Proband quasi re-agieren soll, stellt bereits eine Negation des Willens dar.

Wobei der Begriff des freien Willens ohnehin eine Redundanz enthält, da ein nicht-freier Wille nicht als Wille gelten kann.  

Allein wird die Abwegigkeit des Experiments, die in der Vorstellung besteht, das Selbsterleben des Subjekts könne anhand der anschließenden Selbstreflektierung und der danach erfolgenden Äußerung in Form einer Datierung "objektiv" messbar gemacht werden, kaum thematisiert.

 

Die Selbstgewissheit der Person und damit auch die der Willensbildung können nicht feststellbar gemacht werden.

Der freie Wille kommt, nach Thomas von Aquin, aus dem Nichts, zeitlich werdend im Wirken. Die Frage nach seiner Herkunft ist identisch mit der Frage, warum überhaupt etwas ist und nicht nichts. Auch sie ist zeitlich kausal und mit den Mitteln der Naturwissenschaft nicht beantwortbar.

Käme der Wille aus der Zeit, wäre er ohnehin kausal. Damit wäre er begrifflich aufgehoben, denn er wäre nicht das, was er besagt: ein von der Person ausgehender Anlass und eine allein von ihr hervorgebrachte Eigenbewegung.

 

Die Reflexion der Willensbildung kann der Willensbildung nur nachfolgen. Und die kognitive Zuordnung der Reflexion in Form der Datierung kann nur dieser nachfolgen.

Sie mit der Willensbildung zu verwechseln, ist ein grundlegender Denkfehler.

Ein Irrtum der strukturell auf Descartes Apodiktum Ich denke also bin ich zurückgeht, der die kognitive Reflexion mit dem Ich verwechselt.

 

Das Bereitschaftspotential ist nun ein Begriff, mit dessen Inhalt Astrologiekundige vertraut sind: Wenn etwa einer der vier Kardinalpunkte am Aszendenten aufsteigt oder die Mittagshöhe passiert, vollzieht sich meist ein fälliger Wechsel der Situation, Leute stehen auf und verlassen das Lokal, andere treten ein. Das Bereitschaftspotential dürfte bei dieser astrologischen Konstellation reichlich vorhanden sein, allein wird es nicht von allen umgesetzt. Einige spüren den Impuls zum Aufbruch, bleiben aber sitzen. Andere wiederum wollten die ganze Zeit schon gehen, finden aber den entscheidenden Punkt des Aufbruchs nicht. Jetzt ist der Augenblick gekommen ...

 

Philosophische Protektion erblicken die Anhänger des neurologischen Beweises für die Nicht-Existenz eines freien Willens bei Schopenhauer. Dieser hatte im Zusammenhang seines Konzepts von der Welt als Wille und Vorstellung den Aphorismus geprägt: Ein Mensch kann zwar tun, was er will, aber nicht wollen, was er will.

 

Dieser Satz wird von naturwissenschaftlicher Seite gleichsam als Beschreibung des neurologischen Reaktionsmusters betrachtet, welches einem Willensakt vermeintlich vorausgeht und von dem angenommen wird, dass es diesen bestimmt.

 

Tatsächlich hatte Schopenhauers Satz die umgekehrte Bedeutung: Die naturwissenschaftliche Willensverneinung betrachtet den Willen als kausale Folge neurologischer Kausalitäten, die wiederum einer komplexen, jedoch letztlich determinierten Ursache-Wirkung-Beziehung unterliegen. Der Wille und sein Hervorbringer, das Ich, sind Projektionen, eine Illusion der Eigenbewegung, um die komplexen neurologischen Vorgänge zu koordinieren. Wobei sich freilich die Frage stellt, nach welchem Motiven diese sich richten und koordinieren. 

 

Wenn der Wille determiniert ist, ist es kein Wille mehr, sondern ein Vorgang.

 

Schopenhauer sah indes die Kausalität selbst als Ausdruck eines Willens an. Sein Satz ist damit nicht Zeugnis physiologischer Vorgänge, sondern widmet sich einer inhaltlichen Fragestellung, welche sich aus dem Begriff des Willens als solchem ergibt.

 

Das Problem, welches ihn den Aphorismus artikulieren ließ, bestand für Schopenhauer in einer vermeintlichen Tautologie, die entsteht, wenn man nach dem Grund des Willens fragt. Die Antwort auf die Frage, warum man etwas will, sei letztlich, weil man es wolle.

 

Der Wille würde sich durch den Willen begründen und dieser wiederum durch den Willen ... und so fort.

Allein ist Schopenhauers Antwort auf die Frage ebenso tautologisch: Wenn der Mensch nicht wollen kann, was er will, so hebt sich der Begriff des Willens ebenfalls auf. Er wird entweder zum kausalen Vorgang - was Schopenhauer nicht meinte - oder geht von einer Entstehung des Willens aus dem Nichts aus.

Einer Entstehung des Willens, die aufgrund der unendlichen Iteration, bei der man sonst landet, jenseits zeitlicher Kausalität begründet sein muss.

Schopenhauer war das bewusst, er hat es erläutert und von einer intelligiblen Willensfreiheit gesprochen, die dann gegeben sei, wenn das Subjekt den zugrundeliegenden Willen erkennt. Denn dann könne es ihn auch verneinen.

Dies sei die eigentliche Willensfreiheit, gleichsam als die Freiheit vom Willen. Sie führe in einen Zustand, den er als Melancholie bezeichnete.

Hier erklärt sich Schopenhauers Nähe zum Buddhismus. Und seine These Alles was existiert, ist wert, zugrunde zu gehen, oder dass das Nichtsein dem Sein vorzuziehen sei.

 

Eine andere Auffassung der Freiheit als die einer Freiheit vom Willen machte Joseph Beuys geltend in seiner Proklamation, nach der jeder Mensch ein Künstler sei.

Kunst sei gebunden an den Begriff der Freiheit: Nur das - aber auch alles das - was aus Freiheit geschaffen sei, sei Kunst. Die Möglichkeit der Freiheit aber sei jedem Menschen gegeben.

 

In seinem Vortrag vor Angehörigen der Bundeswehr erläuterte Beuys in diesem Sinne seinen Kunstbegriff: Wenn man von allem absieht, was einen an Notwendigkeit und ebenso an Drang treibt, etwas zu tun oder zu lassen, kommt man in einen Zustand, in dem die Entscheidung nicht mehr durch äußere oder innere Notwendigkeiten bestimmt ist. 

Man kann es tun oder lassen. Tut man es nun. so ist es aus Liebe zur Sache

Wenn man aus diesem Zustand heraus schafft, nämlich aus Liebe zur Sache, dann ist es Kunst und ist aus der Freiheit geboren.

Eine Freiheit, die über Schopenhauers Melancholie hinausgeht.

                                                                                                                                   

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- Die Argumentation Singers und seiner Kollegen, nach der ein freier Wille  aus naturwissenschaftlichen Weltsicht ohnehin ausgeschlossen sei, da bei einer vorauszusetzenden kausalen Ableitung von Allem, ein nicht-kausaler Wille keine physikalische Grundlage habe, wird dabei keineswegs mit Konsequenz geführt.

 

- Einmal betonend, es sei vorhersagbar, wie ein Gehirn entscheidet, wenn man alle entscheidungsrelevanten Variablen kenne, spricht Singer an anderer Stelle von einer "nicht-linearen Kausalität, deren Variablen prinzipiell nicht erfassbar" seien und die daher auch nicht vorhersagbar sei.

 

-  In einigen Aussagen schließt Singer einen freien Willen generell aus, in anderen nur graduell, nur auf einer Einschränkung des freien Willens beharrend, ohne zu gewahren, dass ein Prinzip nicht graduell bestimmbar sein kann.

 

- Auf die ethischen Folgerungen angesprochen, ähnelt die Argumentation oft Kants Gottesbegriff: Einen freien Willen gebe es zwar nicht, aber es sei unverzichtbar, so zu handeln, als gebe es ihn.

                                 

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 Benjamin Libet wurde am 12.04.1916 in Chicago geboren.  

 

Da er nicht nur der Initiator des Libet-Experiments ist, das seither in vielen Varianten wiederholt wurde, sondern es auch mit seinem Name verbunden wurde, ist das Mittagshoroskop seines Geburtstags von Bedeutung.

 

 

 

Bei einer Sonne am MC auf 22,5° Widder ergibt sich ein Aszendent von 6° Löwe.

 

Zur Zeit des nach ihm benannten Experiments im Jahre 1979 war er 63 Jahre alt. Damit werden im rechtsläufigen Fügungsrhythmus mit sieben Jahren pro Haus das IC und im gegenläufigen Erscheinungsrhythmus das MC mit der Sonne-Merkur-Konjunktion erreicht. Müncher Rhythmenlehre

 

Mit der Sonne im Widder auf der Mittagshöhe geht es darum, das Bestimmende der Zeit aufzudecken und sichtbar zu machen.

 

Bei Löwe-Aszendent und dem Mars im Löwen bezieht sich die Thematik auf die Lebensäußerung des Einzelnen, den Willen.

 

Mit dem Mars in Haus Eins wird jedoch ein zeitlich Bestimmendes des Willens in der Erscheinung gesucht.

Der Wille wird damit in seiner begrifflichen Bedeutung als Eigenbewegung der Person aufgehoben und zur Fremdsteuerung erklärt, entsprechend der Mars-Uranus-Opposition aus Haus Sieben.

 

Das Ergebnis ist mit Sonne-Merkur am MC - als Rückseite von Saturn-Pluto - die Hörigkeit, die aus der Suggestion erwächst, dass es ohnehin keinen freien Willen gebe und die vermeintliche Selbstgewissheit des Menschen und seiner Willensentscheidung tatsächlich nur Illusion sei und sein Tun in Wirklichkeit vorbestimmt.

Es ist die Proklamation der Ursprungslosigkeit.

Die Folge der Lähmung, die davon ausgeht, ist verbunden mit dem Aufkommen einer Autoritätshörigkeit, die in ihrer Rigidität neu ist.

Der Zulauf zu autokratischen Kollektiven, wie etwa dem Islamismus, stellt dabei lediglich eine Spiegelung, ein Zeichen des Ausmaßes der Hörigkeitserziehung einer naturwissenschaftlichen Ideologie dar, die dem Menschen letztlich versichert, er habe ohnehin keinen freien Willen.

 

Es ist hierbei für ein naturwissenschaftlich geprägtes Gesellschaftsverständnis, das in Fragen der politischen Entscheidung die Parole der Alternativlosigkeit in den Vordergrund stellte, kennzeichnend, wenn die betreffende damalige CDU-Parteivorsitzende und spätere Kanzlerin der BRD sich anlässlich der offiziellen Feier ihres fünfzigsten Geburtstags einen Vortrag von Wolf Singer bestellt hatte, der als Neurologe und einer der Hauptvertreter der Negation eines freien Willens vor den versammelten Gästen im Konrad-Adenauer-Haus deklamierte, der freie Wille sei Illusion. 

Das Thema stellt freilich die naturwissenschaftlich artikulierte Neuauflage einer Debatte dar, die auf Augustinus zurückgeht und im Streit zwischen Erasmus von Rotterdam, der die Freiheit des Menschen betonte, im Gegensatz zu Luther, der den freien Willen für nichtig erklärte, einen wesentlichen Unterschied in der Auffassung von der Person des Menschen in der katholischen und protestantischen Anschauung kennzeichnet.  

 

Noch deutlichere Aausprägung als bei Luther, erfuhr die Vorstellung von der Vorherbestimmung bei Calvin. Dessen Lehre von der Doppelten Prädestination,  nach der nicht nur  die Schicksalsform, in die ein Mensch hineingeboren wird, vorherbestimmt sei, sondern auch seine ethische Entscheidung, deckt sich so mit der des Islam.

 

 

Erasmus, Luther und die Wahlfreiheit >>

                      

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(C) Herbert Antonius Weiler 2017