Das Beispiel der Gebetsriemen
Jesus unterscheidet in seinen Worten zwischen den mosaischen Gesetzen und den schriftgelehrten Auslegungen und Erweiterungen. Bekannt ist seine Erwiderung auf die Vorwürfe der Pharisäer, weil seine Jünger der Vorschrift der rituellen Handwaschung vor dem Essen nicht nachkommen. Er wirft ihnen darauf vor, den Sinn der mosaischen Weisungen zu entstellen und sie durch eine Vielzahl von Regeln und kasuistischen Wendungen zu ersetzen. So im Falle der Weisung, Vater und Mutter zu ehren und im Alter für sie zu sorgen. Wer jedoch den Teil seines Wohlstands, den er seinen Eltern hätte zukommen lassen sollen, als Korban, als Opfergabe für den Altar, deklarierte, konnte ihn behalten. "Ihr aber lehrt: Wer zu Vater oder Mutter sagt: Was ich dir schulde, erkläre ich zur Opfergabe, der braucht seinen Vater oder seine Mutter nicht mehr zu ehren. Damit habt ihr Gottes Wort um eurer Überlieferung willen außer Kraft gesetzt." (Matthäus 15,6)
- Viele der mosaischen Vorschriften wie auch der Überlieferungen sind aus hygienischen oder auch gesundheitlichen Aspekten durchaus nachvollziehbar. So etwa die Vermeidung von Schweinefleisch.
Ein anderes mosaisches Speisegesetz besagt: "Du sollst das Lamm nicht in der Milch seiner Mutter kochen"
Wenn daraus abgeleitet in der heutigen Praxis des orthodoxen Judentums die Trennung von Milchigem und Fleischigem vorgeschrieben ist, einschließlich des zu benutzenden Geschirrs, so mag das in der konkreten Regelung verstiegen erscheinen, allein hätte es sich bei Beachtung dieser Empfehlung verbeten, pflanzenfressende Haustiere wie Rinder und Schafe mit Fleischresten, tierischen Proteinen zu füttern. Eine BSE-Seuche wäre ausgeschlossen. Es dürfte ein ungeheurer Schock für das Stoffwechselsystem von Pflanzenfressern sein, wenn es plötzlich mit tierischen Eiweißen konfrontiert wird. Und es liegt ein Schrecken darin, das Lamm in Milch zu kochen, die ihm von seiner Mutter zum Aufwachsen und Leben gespendet wird. Und dieser Schrecken ist in der Weisung des Moses, Eiweiß aus den einander ausschließenden Lebensphasen nicht zu vermischen, enthalten.
Gleichwohl müssen in den Jahrhunderten vor der Geburt Jesu, Vorschriften entstanden sein, die er infrage stellte. Wobei die Hervorhebung der Weisung der Liebe zu Gott und der Liebe zum Nächsten als wichtigstes Gebot ohnehin jede Regelungsvorschrift erübrigte.
Exemplarisch für die Ersetzung einer inhaltlichen Orientierung durch eine Regelung oder eine konkrete Verrichtung kann die Praxis des Anlegens der Gebetsriemen gelten.
Es fällt schwer, sich Jesus mit Gebetsriemen vorzustellen. Aus den Evangelien geht jedoch hervor, dass dies zu Jesu Zeiten bereits üblich war, zumindest für einige Gruppierungen der heterogenen jüdischen Gesellschaft. Ausschlaggebend für das Ritual ist die Stelle 6,4-9 im 5. Buch Moses. Dort heißt es: "Höre, Israel: Der Ewige ist unser Gott, der Ewige allein! Und du sollst den Ewigen, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft. Und diese Worte, die ich dir heute weise, sollen in deinem Herzen sein. Und du sollst sie deinen Kindern lehren, und du sollst davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt und wenn du auf dem Weg gehst, wenn du dich hinlegst und wenn du aufstehst.Und du sollst sie als Zeichen auf deine Hand binden, und sie sollen als Merkzeichen zwischen deinen Augen sein, und du sollst sie auf die Pfosten deines Hauses und an deine Tore schreiben. ... dass du nicht vergisst den Ewigen, der dich aus Ägypten, dem Sklavenhaus, herausgeführt hat"
Sie sollen die Weisung der Liebe zu Gott und die Mahnung, sich nicht von den Umständen und von Kollektiven bestimmen zu lassen, im Handeln und im Sinn haben. Was kann törichter erscheinen, als daraus abzuleiten, sich eine Lederkapsel mit diesen Worten an die Stirn zu binden und Riemen an den Armen? Martin Buber sprach angesichts der Regelungsdogmatiker von den "Affen des Absoluten".
Die Praxis dürfte in den Jahrhunderten nach der assyrischen Deportation oder nach der Babylonischen Gefangenschaft entstanden sein, da sie bei den Samaritanern, die nur die Fünf Bücher Moses als verbindlich anerkennen, nicht vorkommt. Deportiert wurden hauptsächlich Angehörige der israelitischen Oberschicht, die Samaritaner stellen einen Teil der Nachkommen jener Israeliten dar, die im Nordreich verblieben waren, sich mit anderen Völkern vermischten, und die nach Ende der Babylonischen Gefangenschaft als Abspaltung betrachtet wurden. Die damit verbundene Geringschätzung der Samaritaner wird von Jesus aufgegriffen im Gleichnis vom barmherzigen Samariter, der als Einziger einem Verletzten hilft. Auch in der Begegnung mit der samaritanischen Frau am Brunnen von Sichem werden die Samaritaner und ihre Lehre erwähnt.
© H e r b e r t A n t o n i u s W e i l e r