Der Sprachfehler

 

 

Als ich sechs Jahre alt war, verbrachte ich zwei Wochen im Krankenhaus der Kreisstadt. Der Arzt hatte eine Operation empfohlen. Die Mandeln sollten geschält und Polypen entfernt werden. Meine Mutter brachte mich an einem Abend hin. Die Operation war für den nächsten Morgen angesagt. Sie fand nicht im Hospital statt, sondern in der Praxis eines Arztes im Erdgeschoss des Rathauses, eines alten Gebäudes im Zentrum der Kreisstadt, gleich unterhalb des Krankenhauses, das auf einem Berg liegt.

Eine weißgekleidete Helferin nahm mich in Empfang und setzte mich auf ihren Schoß, um mich festzuhalten. Betäubungsspritzen wurden verabreicht. Dr. Torhorst war der Name des Arztes. Er näherte sich mit einer langen glänzenden Zange, eine andere Helferin hielt mir eine nierenförmige, glänzende Stahlschüssel unter das Kinn. Der Arzt fuhr mir mit der Zange in den Rachen, handwerkte dort eine Weile und holte nach und nach ein paar blutige Stücke hervor, die er in die Schüssel fallen ließ. Irgendwann war die Operation beendet. Man legte mir ein Kältekissen um den Hals und brachte mich zurück auf die Kinderstation des Marienkrankenhauses. Bunte Bilder aus der Micky-Maus-Welt an den

Wänden.

 

Nachdem ich von der Operation genesen und wieder zu Hause war,  konnte ich die Zahl Neun nicht mehr sprechen. Stattdessen kam immer nur "Norn" heraus.

In der Schule zählte ich "eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, norn, zehn".

Die Lehrer akzeptierten das;  ich erklärte es als eine Folge der Mandeloperation.

Aber im dritten Schuljahr kam eine Lehrerin aus Bayern, Fräulein Babiel.

Und ihr fiel es irgendwann ein, mich zu triezen, was das denn für ein Unsinn sei, mit dem "Norn" immer. Ja, wegen der Operation ist es, sagte ich. 

Eines von den fleißigen Mädchen in der ersten Bank meldete aber, ihr Bruder habe auch so eine Operation gehabt und der könne sehr wohl Neun sagen. Allgemeines, zustimmendes Nicken.

Darauf drohte mir die Lehrerin, bis morgen müsse ich es zustande bringen "Neun" zu sagen, ansonsten gäbe es Strafarbeit.

Ich war verzweifelt. Wie sollte ich das hinkriegen? Bei der Bildung von Neun hatte ich so einen Spasmus im Rachen, wie ein Schock, es ging einfach nicht.

Da kam mir die geniale Idee, statt "Neun" einfach "Nein" zu sagen, womit ich kein Problem hatte und was sich vielleicht für andere zum Verwechseln ähnlich anhörte.

Am anderen Tag in der Schule sollte ich vorzählen: "Eins. zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben acht, nein, zehn" sagte ich. Keiner hat es gemerkt. Na, siehst du, meinte die Lehrerin.

Es war die Rettung. Später verschob ich den Vokal "Ei" zaghaft immer mehr zu einem "Eu" und es klappte - ich konnte wieder Neun sagen.

Es war die Weise, wie das Eu, bei der Neun am Schluss ins Nasale übergeht. Das konnte ich einfach nicht mehr hervorbringen. Es war mit einer Angst verbunden und mit einer Sperre im Rachenraum. Noch heute kann ich es nachfühlen und dann macht es mir geradezu Vergnügen "Neun" zu sagen, fast heilsam.

Das Eu war bei den Griechen ein wichtiger Laut, könnte also auch mit dem Uranus zu tun haben, da die griechische Kultur ja dem Wassermann zuzuordnen ist.

Bei der Neun hat es eine Verbindung von Oben und Unten. nämlich indem das U sich zuspitzt und hochgeholt wird zum Eu und dann über das N zum nasalen Aushauch über dem Gaumen wird.

Oder war es, weil die Zahl Neun dem Mars entspricht? Oder hatte es was mit den Nornen zu tun, den drei alten Frauen in der Edda, die das Schicksal spinnen? Ich weiß noch, wie mich der Name dieser Wesen tief berührte, als ich Jahre später davon hörte.

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Das Baumhaus

 

Der Wald war mein Freund. Es gab besondere Bäume, die ich liebte und die mir wie Freunde waren, meist Buchen. Schon früh hatte ich Vergnügen am Klettern gefunden. Auf dem Bauernhof von Verwandten meines Vaters in Bölinghoven hatten sich meine Eltern zum Besuch eingefunden. Nicht weit von der Kaffeetafel unter den Obstbäumen, wo die Verwandten saßen, erkletterte ich einen Haselnussbaum, eigentlich war es ein großer, stallhoher Busch aus drei oder vier dickeren Stämmen, die mir guten Halt boten, um zwischen ihnen hochzusteigen. Verwundert hatte die Kaffeegesellschaft zugeschaut. "Dä kann klimmen wie en Kauert", kommentierte meine Mutter. Ein Kauert ist ein Eichkatz.

 

Später wurden die Baumkronen mein Fluchtrevier, wenn ich von älteren Jungen drangsaliert und verfolgt wurde. Keiner konnte mir nachklettern. Manches Mal ging ich aus dem Hause, in den nahegelegenen Schulwald, ein kleines Wäldchen, das sich hinter der Schule auf einem Hügel über dem Dorf erhob und von überall zu sehen war, zwei Bänke befanden sich unter den großen Bäumen und oft saßen die Leute des Dorfes dort, machten Rast und schauten hinunter zur Straße. 

Eine Buche am nördlichen Rande dieses Hains, weit über einem Hang ragend, deren Wipfel einen bequemen Halt bot, hatte ich mir ausgesucht, um mich im Geäst auszuruhen und ins Land zu schauen. 

Ich war der König der Baumwipfel.

Keiner konnte klettern wie ich. Das heißt, einen gab es, Hermann Stefer, aber er war einige Jahre älter und hatte irgendwann andere Interessen und verschwand aus meinem Blickfeld.

 

Es gab Bäume, die keiner außer mir besteigen konnte. In den Wäldern des Umlandes fasste ich immer wieder besondere Bäume ins Auge, die ich bisher noch nicht erstiegen hatte. Eine Herausforderung, die ich mit mir herum trug, wie Bergsteiger wohl das Erklimmen einer Felswand..

Im Schulwald gab es eine große Buche, deren Äste erst in zehn Meter Höhe ansetzten. Ein Baum, der zu erklettern unmöglich schien.

Irgendwann aber erkannte ich einen Weg, vom Nachbarbaum aus, einer Eiche. Von ihr aus erschien es möglich, in Höhe der Baumkronen in das Geäst der wesentlich größeren Buche hinüber zu klettern. Es gelang. Selbst mein älterer Vorgänger hatte es nie bis hierhin geschafft. 

Ein Weile kostete ich den Triumph der Bewältigung dieses Unterfangens aus. 

Später lud ich Büchlers Achim ein, es mit mir in die schwer erreichbare Baumkrone zu wagen. Es gelang, indem ich ihm, besonders an der schwierigen Stelle des Überwechselns von einem Baum auf den anderen, die richtigen Äste zeigte und wie sie zu greifen waren. Alleine und auf sich gestellt vermochte er es jedoch nicht. Und so blieb die Baumkrone ein Ort, den nur ich erreichen konnte. 

 

Eine flache Astgabel bot sich als Plattform für ein Baumhaus an. Ich schleppte Bretter heran, legte sie unter den Baum. Zwei Freunde halfen mir, indem sie diese an einem Seil, das ich hinunterließ, befestigten. Ich zog die Bretter hoch und nagelte sie auf der Astgabel fest, so dass ich eine  Ebene hatte, auf der sich nun mit weiteren Brettern Wände und ein Dach errichten ließen. Das Werkzeug meines Vaters brachte ich jeden Abend wieder mit nach Hause. 

Udo Nelles und Achim Büchler, die beiden Freunde, sollten Hammer und Zange einsammeln, die ich aus dem Baumwipfel herunter warf. Jetzt kommt der Hammer, rief ich. Noch Jahre später beschwerte sich Udo Nelles, er habe den Ruf erst vernommen, als der Hammer schon haarscharf vor seinem Gesicht heruntergefallen sei.

 

Das Dach des Baumhauses versah ich mit einer alten Wachstuchtischdecke aus dem Fundus meiner Mutter, so dass es regengeschützt war. 

Um das Baumhaus wohnlich zu machen und gleichsam als Ruheort in Besitz zu nehmen, schaffte ich einige Fix-und-Foxi-Comic-Hefte heran.

Nun war die Baumhütte fertig. Was konnte ich noch tun? Es kam mir in den Sinn, sie zu tarnen. Zwar befand sie sich hoch in der üppigen Krone des Baumes, aber bei gezieltem Hinschauen blieb sie nicht unsichtbar.

Aus dem größeren Wald an den Hängen auf der anderen Seite der Dürsch, des Baches, der durch das Dorf fließt, holte ich Tannenreiser, schaffte auch sie in die Baumkrone und nagelte  sie mit den U-Haken aus der Werkzeugkiste meines Vaters von außen an die Bretterwände der Baumhütte. Nun war, wie ich meinte, meine Konstruktion nicht mehr so einfach auszumachen. 

 

Es war jedoch Frühsommer gewesen, als ich mit dem Bauen begonnen hatte, und nachdem der Herbst kam und alle Laubbäume ihre Blätter verloren, war mein Baumhaus als riesige Gestrüppkugel im Baumwipfel an der südlichen Seite des Schulwaldes weithin sichtbar. Die Leute im Dorf wussten, dass es ein Baumhaus war. Auch wussten sie, dass ich der Erbauer war; man machte nicht viel Aufhebens davon. Einmal fragte ein Fremder meine ältere Schwester, die im Büro des ansässigen Bauunternehmers arbeitete, wer denn das Gestrüpp in den Baum gehängt habe. Das war mein Bruder, hatte sie geantwortet, es ist ein Baumhaus.

Es verging ein Jahr oder zwei und irgendwann sprach mich der Pastor in der Messdienerstunde an, was das für eine unansehnliche Konstruktion sei, die schon so lange im Baum hing.

Die Äste der Buche ragten nämlich auf des Pastors Obstbaumwiese, so dass meine Baumhütte, die aus Gründen der Tarnung wie eine Gestrüppkugel aussah, eigentlich über seinem Terrain hing. Er war ohnehin selten gut auf mich zu sprechen und stellte mich zur Rede, was denn das für ein blödes Spiel sei, so eine Baumhütte, ich könne ja gar nicht richtig spielen, wie andere Kinder es tun. Er nannte Seilspringen als Möglichkeit. Wenn er sich im Religionsunterricht Namen ausdachte für seine erbaulichen Geschichten, lauteten sie meist Karl, Otto oder Franz. 

 

Mein Vater war schon länger krank und der Pastor war, wie er mir sagte, der Meinung, an meiner Erziehung mitwirken zu müssen. 

Ich solle die Baumhütte abreißen, forderte er, auch könne sie jemandem auf den Kopf fallen. 

Werde ich nicht, gab ich zur Antwort. Oder dachte ich es nur und erwiderte nichts?

 

Später trug mir jemand zu, der Pastor habe nunmehr die Freiwillige Feuerwehr des Ortes beauftragt, die Baumhütte abzureißen. 

Nicht nur erfüllte es mich mit Trotz, es war mir auch leid um mein Werk. So nahm ich mir von einem wilden Schrottabladeplatz im Wald auf der anderen Seite des Baches eine kleine Rolle Stacheldraht mit und umwickelte den dicksten Ast, den zu umfassen unvermeidbar schien, wollte man das Baumhaus erreichen, auf eine Armlänge mit Stacheldraht. Mir war es weiterhin möglich, zum Baumhaus zu gelangen, aber einem Unkundigen nicht. 

Im Sommer danach zeigte mir Heiders Helmut im Freibad seinen zerkratzten Unterarm. Als Feuerwehrmitglied hatte er auf die Anträge des Pastors hin versucht, an die Hütte heranzukommen. Mit einer Leiter hatte er zwar das erste Stück überbrücken können, um überhaupt ins Geäst der Buche zu gelangen,  aber es war nicht möglich gewesen, sie besser zu positionieren und so weit zu gelangen, um sich in der Krone zurechtzufinden und das Baumhaus zu demontieren. So war er geklettert und dabei an den Stacheldraht geraten. Die Hütte hat er lassen müssen. 

Man zog wieder ab. Manch einer, Haiders Helmut eingeschlossen, grinste insgeheim über das Scheitern des Unterfangens und meinen Machtkampf mit dem Pastor.

Die Hütte blieb - außer durch Wind und Wetter - noch einige Jahre unbeschadet.

Abgerissen hat sie schließlich vier Jahre später ein anderer. Während der Sommerferien hatte man in der Dorfschule, im Rahmen einer karitativen Maßnahme, Kinder aus Köln zur Erholung untergebracht. Der älteste von ihnen, ein Vierzehnjähriger, hatte es geschafft, den Baum zu erklettern. Er hat das Baumhaus zertrümmert.

Aber zu dieser Zeit war es schon lange Vergangenheit für mich und ich war dabei mit Udo Nelles und Achim Büchler, tief im Bengels Bösch, im Tannenwald, eine richtige Blockbaumhütte zu bauen, eine dreieckige Blockhütte, errichtet aus alten Fichtenstämmen. Dies in beträchtlicher Höhe. Drei Bäume dienten uns als Eckpfeiler.

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(C) Herbert Weiler, 2010