Die Tafeln aus Stein
- Von den Tafeln aus Stein ist im Zweiten Buch Moses die Rede. Gott hat auf ihnen die Gebote und Weisungen für die Kinder Israels geschrieben und dem Moses übergeben. Dieser Akt gilt als zentrales Thema des Judentums im Sinne einer quasi in Stein gemeißelten Gesetzesvorschrift, oft verbunden mit dem Klischee der erstarrten Gesetzesreligion. Auf den zahlreichen Bilddarstellungen mit den Zehn Geboten sind meist Tafeln zu sehen, die wie Felsgestein anmuten.
- Jedoch waren nach der mündlichen Thora die Tafeln nicht aus Felsgestein oder Granit, sondern aus Kristall. Sie waren aus Saphir. Und das bedeutet, dass sie lichtdurchflutet waren.
- Sie waren in Wirklichkeit Fenster. Fenster, durch die der Einzelne im Dialog mit dem Himmel stehen soll. Deswegen heißt es: "Jeder Einzelne antwortete" "und sie sahen den Gott Israels; und unter seinen Füßen war ein Boden wie von Saphir, so klar wie der Himmel selbst." ( 2 Moses 24,1-10)
- Und so werden sie im ursprünglichen Sinne auch begriffen, nämlich als Ansprache Gottes an den einzelnen Menschen. Das gab es zuvor nicht.
- Martin Buber nennt als das wesentliche Element, das durch das Judentum in die Welt gekommen ist, das Dialogische Prinzip. Das Verhältnis von Ich und Du.
- Die Weisungen sind nur ein Aspekt, gleichsam eine Herausforderung, in der der Einzelne angesprochen ist und in Ansprache und Antwort vor dem Himmel steht.
Sie sind nur ein temporärer Aspekt dieser Entwicklung, quasi ein Außenskelett, das beizeiten abgelegt werden würde, so dass jeder aus dem Empfinden heraus handelt. Das wurde auch klar formuliert, etwa von Jeremias, der diesen anarchischen Grundgedanken des Judentums hervorhob, nämlich die Emanzipation des Einzelnen und seine Unabhängigkeit von äußerer Maßgabe, indem diese Beziehung zum Himmel einmal verinnerlicht werden würde:
"Dann wird nicht mehr einer seinen Nächsten oder einer seinen Bruder lehren und sagen: Erkenne den Ewigen! Denn sie alle werden mich erkennen von ihrem Kleinsten bis zu ihrem Größten." (Jer. 31,34)
- Beizeiten, so Jeremias, wird keiner dem anderen mehr sagen, was er zu tun und zu lassen habe, weil es jeder aus seinem Herzen heraus weiß.
- Das ist auch im Bild von der Befreiung aus der Ägyptischen Gefangenschaft ausgedrückt. Im Sinne von Saturn-Pluto bezieht diese sich ja auf die Befreiung des Einzelnen aus dem Zwang des Kollektivs, wo er nur als Funktion der Gemeinschaft begriffen wurde. Die Tafeln aus Saphir mit den Zehn Weisungen wurden nach dieser Befreiung überreicht.
- Die Überreichung der Tafeln erfolgte im Verlauf der Wüstenwanderung, nachdem das Volk Israel aus der ägyptischen Gefangenschaft ausgezogen war. Die ägyptische Sklaverei gilt in der Münchner Rhythmenlehre als Bild der Saturn-Pluto-Verbindung. Diese geht auf die Verbindung von Saturn und Neptun zurück. Es geht um die Lücke des Uranus bzw. Wassermanns, der geboren werden will. Das ist die Identität des Einzelnen, der Mensch. Daher feiern die Juden den Erhalt der Tafeln am Sinai als Schawuoth, das Fest der Individualisierung des Einzelnen in der Ansprache durch die Weisungen Gottes. Das Fest wurde bei den Christen zu Pfingsten, Denn es war das Fest Schawuoth, zu dem sich die Apostel versammelt hatten, als der heilige Geist sich in Gestalt einer Flamme auf jeden Einzelnen von ihnen herabsenkte.
- Der Mensch ist von nun an nicht mehr durch das Kollektiv bestimmt, sondern steht als Einzelner vor Gott. Als einer, der Ich sagen kann, steht er im Dialog vor dem ewigen Du, wie Martin Buber es ausdrückt.
- Daher auch die besondere und stets wiederkehrende Betonung der Einzigkeit Gottes. Er ist das Prinzip der Identität, der Einzigkeit, das sich mitteilt und durch das der Mensch auch ein Einzelner in seiner Einzigkeit werden soll.
- Daher übersetzen Buber und Rosenzweig den Heiligen Namen, das Tetragramm - יהוה -, das in den meisten Übertragungen seit Luther als HERR erscheint, mit dem Grundwort der Person Ich und Du. So lautet das erste der Zehn Gebote: ICH bin dein Gott, der ich dich führte aus dem Land Ägypten, aus dem Haus der Dienstbarkeit. Nicht sei dir andere Gottheit mir ins Angesicht.
Martin Buber /Franz Rosenzweig Die Bücher der Weisung
- Der Mensch soll heraustreten als Einzelner, soll nicht mehr vom Kollektiv - dafür steht Ägypten - und nicht mehr durch Vorgänge - dafür steht Babylon - bestimmt sein. Er soll zur eigenen Bewegung kommen.
- Daher ist von zwei Gefangenschaften die Rede - der ägyptischen und der babylonische Gefangenschaft.
- Der Saphir wird in der Bibel mehrmals erwähnt. Er bildet nach dem Jaspis die zweite der zwölf Grundsteine der Mauern des Himmlischen Jerusalems. Das entspricht dem Wassermann, dem zweiten Zeichen der oberen Reihenfolge des Tierkreises. So auch seine Zusammensetzung aus Aluminiumoxyd, der Neptun-Uranus-Verbindung bzw. dem Übergang von Fische und Wassermann entsprechend. Seine blaue Farbe ist die des Himmels.
- In der antiken Entsprechungslehre wird er dem Saturn zugeordnet. Als dessen Hauptzeichen galt damals der Wassermann.
- Noch im Mittelalter wurden alle blauen Edelsteine als Saphire bezeichnet. Sein Name ist etymologisch verbunden mit dem hebräischen Wort für Schrift oder Buch - Sepher sowie mit Ziffer - Sephirah. Das griechische Sphära und damit das deutsche Sphäre gehen darauf zurück.
- Der Saphir ist das Sphärenkristall. In den zehn Sephiroth des Lebensbaums der Kabalah werden die zehn Sphären der ersten Ausgießung des göttlichen Lichtes dargestellt. Die zehn Sephiroth >>
- Das gewöhnliche Felsgestein besteht in der Regel aus erkaltetem, ehemals Flüssigem oder aus Sediment. Anders das Kristall. In ihm hat sich eine Struktur gebildet, die das Licht aufnimmt. Oder anders gesagt: Es ist eine Struktur des Lichts.
- Als Moses nach der Überreichung der Tafeln vom Berg Sinai hinabsteigt, hat das Volk schon begonnen, ein goldenes Kalb anzubeten. Aus Zorn zerbricht Moses die Tafeln.
- In der mystischen Lehre des Isaak Luria wird der Bruch der Sephiroth-Gefäße beschrieben. Sieben der zehn Gefäße konnten die Ausgießung des Lichtes nicht fassen und zerbrachen darüber. Aus den Scherben entstand die Materie. In ihr eingeschlossen sind die göttlichen Funken. Sie harren der Befreiung im Erkennen des Menschen. Dies bedeutet, die Gestalt der Gegenwart im Gegenüber zuzulassen.
- So beschreibt es der Mystiker Baal Schem Tow in einem Gedanken über die heiligen Funken:
Die heiligen Funken, die gefallen sind, als Gott Welten baute und zerstörte, soll der Mensch erheben und aufwärts läutern von Gestein zu Gewächs, von Gewächs zu Getier, von Getier zu redendem Wesen, läutern den heiligen Funken, der von der Schalengewalt umschlossen ist. Es ist bekannt, dass jeder Funke, der in einem Gestein oder Gewächs oder einer anderen Kreatur wohnt, eine völlige Gestalt hat mit der Vollzahl der Glieder und Sehnen, und wenn er in dem Gestein oder Gewächs wohnt, ist er im Kerker, kann Hände und Füße nicht strecken und kann nicht sprechen, sondern sein Kopf liegt auf seinen Knien.
Und wer mit der guten Kraft seines Geistes den heiligen Funken von Gestein zu Gewächs, von Getier zu redendem Wesen zu heben vermag, der führt ihn in die Freiheit, und keine Lösung Gefangener ist größer als diese. Wie wer einen Königssohn aus der Gefangenschaft errettet und zu seinem Vater bringt. aus: Baal Schem Tov, Martin Buber
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(C) Herbert Weiler, Dezember 2023
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