Der Vogel

 

 

- Die Katze, die immer zu Besuch kommt, hatte einen Vogel geschlagen. In der Nachmittagssonne hatte sie sich auf dem Rasen niedergelassen. Ruhig lag sie im Gras. Beim Näherkommen bemerkte ich neben ihr den Vogel, ebenso ruhig saß er dort. Ein seltsames Paar. Ein Schrecken war über ihnen. Der Vogel ließ sich widerstandslos in die Hand nehmen, seine Augen waren offen und schauten. Als ich ihn umdrehte, war am Bauch die klaffende Wunde zu sehen. Groß wie ein Daumennagel. Offenbar war er in einem Schockzustand. Und die Katze saß daneben. Ohne sich weiter mit ihm zu beschäftigen. Fast, als hätte sie ein Bewusstsein ihrer ruchlosen Tat. 

 

- Ist es eine Nachbarskatze?

 

- Nicht direkt. Ihre Leute wohnen am anderen Ende der kleinen Straße, etwa acht Häuser weiter unten am Hang. Sie besucht halt gerne reihum die Haushalte, dabei hat sie sich bei den Nachbarn, die ihr gewogen sind, durchaus heimisch gemacht. Sie erhält dort Futter und übernachtet gelegentlich auch. Zugenommen hat dies, nachdem ihre Besitzer einen Hund angeschafft haben. Seitdem hält sie sich fast nur noch bei den Häusern am oberen Hang auf. Sogar eine Katzenklappe, einst für einen längst verstorbenen Familienkater eingerichtet, wird von ihr benutzt.

 

- Ein sehr unternehmerisches, eigenständiges Wesen. Eine Katze oder ein Kater?

 

- Eine Katze. Braun und weiß gescheckt, mit blauen Augen. Sie hat schon ein Schicksal. Ihre Leute haben sie aus Südfrankreich mitgebracht, wo man sie aus einem verwaisten Swimmingpool gezogen hat. Sonst wäre sie ertrunken. Meist kommt sie unbemerkt durch die spaltweit offene Terrassentür ins Haus, grüßt kurz, geht dann zum Trockenfutter und legt sich anschließend meist zum Schlafen in den Schaukelstuhl auf der Galerie. Am Abend geht sie wieder los, vermutlich zu ihren Freunden nebenan. Das geht schon etliche Jahre so.

 

- Und der Vogel? Was war es für einer?

 

- Ein junger Fink. Er lag völlig regungslos in meiner Hand. Und schaute mich an.

 

- An einer solchen Verletzung würde er aber ohnehin sterben. Wäre man nicht verpflichtet, sein Leiden zu beenden?

 

- Das ist das, was in solchen Situationen geredet wird. Aber so wie der Vogel einen anschaute, war es ausgeschlossen. Ich nahm ihn mit ins Haus und stieg die Treppe zum Giebelzimmer hoch, dort wo meine Schwester ihr Nähzeug deponiert hatte. Ich griff mir eine feine Nadel, in der noch ein Faden steckte. Der Vogel, immer noch regungslos, mit dem Bauch nach oben in meiner Hand. Ich legte ihn genau so auf die Fensterbank, wo viel Licht war. Es galt nun unter dem Federkleid den Rand der Wunde zu finden. Unmittelbar am Rand ist die Haut wegen des Wundschocks unempfindlich. Diesen Bereich muss man treffen, da nur dort das Einstechen der Nadel und das Durchziehen des Fadens schmerzlos möglich ist, sticht man zu weit, tut es dem Vogel weh und er zappelt. Hier ging es relativ problemlos. Ein Stich hin, dann zur anderen Seite des Risses, ein Stich her und noch einmal hin und her,  nicht mehr als viermal, dann konnte ich die Wunde zusammenziehen, den Riss schließen und den Faden verknoten.

 

- Und der Vogel hat sich nicht bewegt?

 

- Das ist das Erstaunliche - tatsächlich hat er sich die ganze Zeit, vom Auffinden bis zum Zusammenziehen der Naht nicht bewegt. Nur geschaut und mit den Augen geblinzelt. Als aber die Wunde geschlossen war, begann er sofort unbändig zu zappeln, entwand sich meiner Hand und flog in eine Ecke des Zimmers. Ich musste ihn fangen, allein um die Enden des herabhängenden Fadens noch abschneiden zu können. Das war nicht einfach, da er sich nun heftig bewegte, sogar mit dem Schnabel zu beißen versuchte und offenbar unbedingt freikommen wollte. Da er bei dem Flug durchs Zimmer offenbar keine Schwierigkeiten hatte, öffnete ich das Fenster und hielt ihn auf der Hand sitzend heraus. Er flog gleich los. Die Befürchtung, er könne abstürzen, war unbegründet, denn er flog in einem großen Bogen zu einem weit entfernten Gebüsch.

 

- Ob er durchkommt ist die Frage. Bei einer so großen Verletzung. Und eigentlich müsste der Faden doch noch gezogen werden.

 

- Ja, stimmt. Aber ich glaube kaum, dass er sich dazu in zwei Wochen oder so einfinden wird. So war es halt das, was ging. Pflegen hätte man ihn nicht können, da er schon viel zu agil war. Eine befreundete Medizinerin meinte zu der Gefahr einer Sepsis, der Faden würde bei nur vier Stichen vermutlich einfach irgendwann abfallen. 

Das Erstaunliche war halt diese durchaus wache Regungslosigkeit, die unmittelbar, nachdem die Wunde zusammengezogen und geschlossen war, in einen unbändigen Freiheitsdrang mündete. So, als hätte der Vogel einen Schutzengel, vielleicht der Schutzengel aller Finken, der ihm die Regungslosigkeit vermittelt hat, solange die Wunde offen war. Und der ihm, als sie geschlossen war, das Ende der Gefahr durch Bewegung mitgeteilt hat. Nun konnte es wieder losgehen.

 

- Und die Katze?

 

- Sie kam danach ins Haus, druckste ein wenig herum und verschwand dann um eine Woche fernzubleiben. Sie wusste, dass man nach der Aktion nicht gut auf sie zu sprechen war.

 

- Aber es ist doch ihre Natur.

 

- Vielleicht müssen Katzen keine Vögel schlagen. Wenn sie Mäuse jagen ist das etwas anderes. Es hat seine Ordnung. Mit Vögeln ist es nicht so. Eine Katze, die auf einen Vogel lauert - das ist wie ein Urbild der Sünde. 

Und Katzen wissen das. Ihr Ausdruck, wenn sie auf Mäuse lauern, ist ein anderer. Wenn etwa der Hauskater der Bäckerei Haidlmaier in Köln auf der Apostelnstrasse des Morgens vor die Tür der Backstube tritt, um den Tag zu begrüßen, hat das den Ausdruck rechtschaffender Zuständigkeit nach getaner nächtlicher Arbeit. Es scheint fast, als gehöre die Bäckerei ihm. Einen Garten hat er dort nicht, auf Vögel zu lauern hat er keine Gelegenheit. Aber täte er es, sähe es gewiss anders aus.

 

- Aber die Katze hat sich wieder eingefunden.

 

- Ja. Irgendwann hatten wir ihr verziehen, weil wir einsahen, dass der Trieb der Katzen, schon allein etwas Beweglichem nachzuspringen, so groß ist - da können sie nicht raus. Dafür sind sie halt Katzen. Ich hatte mich erinnert, wie sie einmal die Schrankwand hochgesprungen war, weil sie einem vom Glas der Armbanduhr gespiegelten Fleck Sonnenlicht hinterher jagte. Da begriff ich die Ausgeliefertheit. 

Mit ihrem katzeneigenen Sinn, hat sie gemerkt, dass ein anderer Wind wehte. Und von da an kam sie wieder.

 

- Möglicherweise kommt der Vogel auch noch mal wieder.

 

- Vielleicht. Dies ist das Horoskop, als er nach der OP vom Giebelfenster aus losflog:

 

 Vogel fliegt nach OP davon, 25.08.2021, 13:29 Uhr, Dürscheid

 

Der Herrscher des Sommer-Verbundes ist das Zeichen Krebs, das von Haus acht nach neun geht, damit ein Anliegen anzeigend, bei dem allgemein Leben erhalten und geschützt werden soll, Der Mond als Planet des Zeichens steht in Haus fünf im Widder, dort, wo es, bei Vorgabe dieses Anliegens, um ein unmittelbares einzelnes Leben geht. Der Mond ist durch Mars, Venus und Merkur aspektiert, was auf einen Riss im Gewebe hindeutet. Die Durchführung mit der Sonne aus Haus neun am MC fügt etwas  verbindlich zusammen, dabei wiederum mit Mars-Merkur in der Jungfrau in kalkulierter Weise ins Gewebe stechend, zusammennähend, als heilsamer Eingriff.

 

Der Mond steht in Opposition zur Venus in Haus elf, die den Uranus am Deszendenten im Zeichen Stier beherrscht, daher, mit Quadrat zum Saturn, das Bild des gefangenen Vogels anzeigend. Herrscher des Deszendenten ist die Venus in Haus elf im Parallelzeichen Waage

Indem Uranus über die Venus ins elfte Haus mitgenommen wird, kommt der gefangene Vogel zur Freiheit. Die Verbindung von Venus in Haus elf und Mond in Haus fünf zeigt an, dass das verletzte, bedrohte Leben wieder freikommt und fliegt.

 

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(C) Herbert Weiler , Sommer, 2021