S P I E G E L U N G 

 

 

 

Im Bildschirm des Klapprechners spiegeln sich die roten Dächer der Häuser vor dem Fenster. Dahinter das schiefergraue Dach der Pantaleonskirche, die sich im morgendlichen Sonnenschein über den Firstreihen der Häuser erhebt.

Die gespiegelte Ansicht ist nicht nur ungewohnt.

 

Die Gegend im Spiegel nimmt sich seltsam neu und unverbraucht aus, lieblicher als die Dachlandschaft außerhalb des Spiegels, welche  alltäglich erscheint.

Als Kind, aus dem Fenster schauend, wirkten sich die in den Fensterscheiben widerscheinenden Landschaften schöner als das Land, wie es mir bekannt war.

Das Sprossenfenster des Fachwerkhauses. Wenn es geöffnet war, spiegelte sich  in den Scheiben des linken Fensterflügels der Wald, der nach Norden hin abfallend hinter der großen Kurve der Hauptstrasse des Dorfes lag. Im Fensterglas war er nun auf der gegenüberliegenden Seite zu sehen, die Straße überblendend, die sich dort mit ihren Häusern und Geschäften nach Süden hinauf erstreckte.

 

Die neue, gespiegelte Landschaft war im ersten Anblick erfreulicher, als die gewohnte. Warum war das so? Warum erschien das Land in der Glasscheibe schöner als das Land, wie man es kannte?

War es das Ungewohnte, welches mit der Seitenverkehrung verbunden war? Warum hatte dann der Blick auf Landschaften, die ebenfalls unbekannt waren, die ich ebenfalls zum ersten Male sah, nicht diesen Anschein des Unverbrauchten, Allmorgendlichen?

Es war zu ahnen, dass dieser Anschein mit dem Wesen der Spiegelung zusammenhängt und nicht auf einer nur ungewohnten Anordnung der Dinge des Alltags beruht.

 

Der Eindruck, in eine Welt des Morgens, in die morgige Welt zu schauen, scheint in der Spiegelverkehrung begründet. Sie zeigt ein seitenverkehrtes Gegenstück der gewohnten Dinge.

So vermittelt die Spiegelung den Schein der Vollständigkeit, der grundlegenden Ergänzung. Sie ist der illusorische Blick in eine geheilte Welt.

 

Zu den Trauergebräuchen im Judentum gehört das Verhängen der Spiegel.  Im Hause der Familie des Verstorbenen  werden alle Spiegel mit Tüchern verhangen. Die Trauer soll nicht gestört werden durch die  Illusion der Vollständigkeit im Spiegel.

 

Der Maler Peter John schilderte, wie er am späten Abend durch den Kölner Volksgarten geht und die Spiegelungen der Lichterketten des Biergartens im See betrachtet. Und wie darin die Szenerie eine scheinbar beglückende  Fülle gewinnt, eine Vollständigkeit.

 

Ein linker Handschuh, dessen Gegenstück verloren ging, wird im Spiegel wieder zu einem Paar.

 

Der Bildhauer Stefan Wewerka sägte einst einen Stuhl symetrisch in der Mitte durch und klebte ihn dann  auf einen Spiegel. Dort erschien er wieder ganz.

Ein Stuhl hat jedoch eine räumlich fassbare Symmetrieachse, die Symmetrieachse eines einzelnen Handschuhs ist im Raum nicht fassbar.

 

Kant bezog aus der Tatsache, dass ein linker und ein rechter Handschuh nicht zur Deckungsgleichheit gebracht werden können,  die Folgerung eines absoluten Raumes, da sie auf ein absolutes Rechts und Links jenseits der Dinge verweisen würde.

Eine Begründung, die sich freilich aufhebt, da der Raumbegriff  hierbei ja gerade aus dem Verhältnis der Dinge abgeleitet wird. Was sich hier vielmehr erklärt ist, wie der Raum aus der Polarität, aus der Beziehung der Gegensätze entsteht.

 

Im Nahen Osten, im  nordafrikanischen und indischen Raum ist das Motiv der symmetrischen Hand bekannt, das Chamsa,  wie es im Arabischen genannt wird, ein Glückszeichen, die segnende Hand, auch als Hand Fatimas bekannt, bei den orientalischen Juden wird es als Hand Myriams und bei den Christen als Hand Marias bezeichnet.

 

Chamsa  bedeutet Fünf .  Das Chamsa-Symbol stellt die Form  dar, die sich ergäbe, wenn eine Hand über die Achse des Mittelfingers gespiegelt würde. Eine Hand, waagerecht bis zu Hälfte des Mittelfingers ins Wasser eines Sees getaucht, ergibt das Bild.

Auf diese Weise besteht das Chamsa  aus zwei Daumen, einer rechts und einer links, und drei Fingern in der Mitte.  

Oft findet sich die Darstellung eines Auges auf der Handfläche. Es wird als Amulett getragen, meist mit den Fingern nach unten weisend,  etwa als Anhänger an einer Halskette oder am Handgelenk.

 

Es soll ein Hinweis sein auf die nicht fassbare Einheit, die Vollständigkeit der Dinge bei Gott. 

 

Dem ähnlich mutet ein bekannter  Aphorismus aus dem Zen an:  Ein Lehrer klatscht in die Hände und fordert vom Schüler  - Höre den Klang der einen Hand...

 

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Dies ist ein Textauszug.

Der gesamte Essay findet sich in dem neu erschienenen Buch: 

Warum Moses das versprochene Land nicht betreten durfte / Essays und Betrachtungen 

 

 

 

(C) Herbert Weiler 2010 / 2015